1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Staatsvertrag mit Sinti und Roma

Andrea Grunau28. November 2013

Sie sind Deutsche und leben seit Jahrhunderten im Land. Doch Sinti und Roma, in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, werden bis heute diskriminiert. In Baden-Württemberg stärkt jetzt ein Staatsvertrag ihre Rechte.

https://p.dw.com/p/1APXw
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (li.) und der Vorsitzende des baden-württembergischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Daniel Strauß unterzeichnen den Staatsvertrag (Foto: dpa)
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (li.) und Daniel Strauß vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Baden-WürttembergBild: picture-alliance/dpa

"Wir waren schon hier, bevor es dieses Land gegeben hat", sagt der Baden-Württemberger Daniel Strauß, der das Gefühl kennt, in seiner Heimat abgelehnt zu werden. Als Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma hat er zusammen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) im Stuttgarter Schloss einen Staatsvertrag unterzeichnet. Strauß sprach von einem historischen Ereignis "nach Jahrhunderten der Angst und des Misstrauens". Für die Minderheit in Baden-Württemberg soll eine neue Zeit anbrechen: ein Verhältnis auf Augenhöhe, um das man 18 Jahre lang gerungen hatte. "Dieses Land ist unsere gemeinsame Heimat", sagte Ministerpräsident Kretschmann.

Der Staatsvertrag erkennt an, dass Sinti und Roma seit mehr als 600 Jahren zur Kultur des Landes gehören und als geschützte Minderheit ein Recht auf die Förderung ihrer Kultur und ihrer Sprache Romanes haben. Vergleichbares gilt für Friesen, Dänen und Sorben in anderen Teilen Deutschlands. Schleswig-Holstein hatte 2012 den Minderheitenschutz für Sinti und Roma in die Landesverfassung geschrieben.

NS-Unrecht "beschämend spät politisch anerkannt"

Seit dem Mittelalter wurden Sinti und Roma ausgegrenzt bis hin zu Verfolgung und Völkermord im Nationalsozialismus, auch das dokumentiert der neue Staatsvertrag im Südwesten. Aus Stuttgart etwa wurden im März 1943 Familien in einem Güterzug nach Auschwitz transportiert, das jüngste Kind war erst zwei Monate alt. Man brachte sie in das sogenannte "Zigeunerlager", wo viele tausend Menschen ermordet wurden, darunter auch die meisten Stuttgarter. Das NS-Unrecht, so heißt es im Staatsvertrag, "ist erst beschämend spät politisch anerkannt und nicht ausreichend aufgearbeitet worden".

Auch die Großmutter von Daniel Strauß, seine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins starben in Auschwitz. Man geht davon aus, dass bis zu 90 Prozent der deutschen Sinti und Roma durch die NS-Verfolgung starben. Jahrzehntelang wurden die Verbrechen an der Minderheit geleugnet. Anträge auf Entschädigung wurden nicht bewilligt, sondern an die Polizei weitergeleitet, die die "Zigeuner-Akten" der NS-Zeit weiterführten. Auch Haus und Betrieb der Familie Strauß waren enteignet worden und wurden nie zurück gegeben.

Staatssekretär Klaus-Peter Murawski sagte im DW-Interview: "Mit diesem Staatsvertrag bekennt sich Baden-Württemberg zur historischen Schuld der Verfolgung unter den Nazis". Noch immer kennen viele das Ausmaß der Verfolgung nicht, während die Minderheit unter den Folgen leidet. Eine Bildungsstudie, die Daniel Strauß herausgegeben hat, zeigt, dass durch den Schulausschluss von Sinti zur NS-Zeit auch viele ihrer Kinder und Enkel nicht zur Schule gingen.

Der Staatsvertrag wurde mit allen Parteien im Stuttgarter Landtag beraten, damit er bei der Verabschiedung im Dezember 2013 breite Zustimmung findet. Auch Städte wurden einbezogen. Der Bürgermeister von Herbolzheim Ernst Schilling musste nicht überzeugt werden. Er hat geholfen, das Schicksal der verfolgten Sinti-Familie Spindler aufzuarbeiten. Sein Amtsvorgänger zur NS-Zeit hatte beantragt, "die Zigeunerfamilie Spindler von Herbolzheim wegzunehmen". Zwölf von 14 deportierten Familienmitgliedern starben.

Ausstellungswand mit Fotos der deportierten Sinti-Familie Spindler aus Herbolzheim in Baden-Württemberg (Foto: DW)
Die Stadt Herbolzheim erinnert mit diesen Fotos an die Sinti-Familie Spindler, die 1942 nach Auschwitz deportiert wurdeBild: DW/A. Grunau

Ernst Schilling reiste zum Gedenken an die ermordeten Herbolzheimer nach Auschwitz-Birkenau. Die Überlebenden seien zweimal misshandelt worden, sagt er, statt nach dem Krieg Wiedergutmachung zu leisten, habe man die Familie verhört und kriminalisiert.

Staatsvertrag verpflichtet zum Kampf gegen Antiziganismus

Beim Staatsvertrag geht es nicht nur um den Umgang mit der Vergangenheit, betont Daniel Strauß: "Es ist wichtig, dass hier erstmals in der Bundesrepublik Antiziganismus anerkannt wird als gesellschaftliches Problem". Politikwissenschaftler Markus End erforscht das Phänomen seit Jahren. Unter Antiziganismus versteht er "Rassismus gegenüber Menschen, die als 'Zigeuner' stigmatisiert werden". Noch 1969, berichtet End, schrieb eine deutsche Ethnologin mit Material aus der NS-Zeit über "Zigeunerschädel".

Vorurteile und Klischees über die Minderheit wurden jahrhundertelang überliefert, das zeigt der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal in seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner". Auch die Medien seien voll davon, sagt Markus End, das habe der Fall des angeblich entführten blonden Roma-Mädchens Maria gezeigt. Der Wissenschaftler hat in seinem "Gutachten Antiziganismus" Studien und Einzelfälle zusammen getragen, die zeigen, wie verbreitet Vorurteile und Feindseligkeit in der Mehrheitsgesellschaft sind. Beispiele fänden sich nicht nur bei Rechtsextremen sondern immer wieder auch bei Politikern etablierter Parteien oder bei der Polizei.

Daniel Strauß hatte früher oft Probleme, eine Wohnung zu finden. Ein Vermieter wollte den Mietvertrag noch vor der Schlüsselübergabe zurücknehmen: "Sie sind ein Zigeuner, das hätten Sie mir sagen müssen". Als Familie Strauß sich gerichtlich wehrte, sagte der Mann, er wolle nicht, dass die Familie "ein Lagerfeuer im Wohnzimmer mache". Der Richter gab Daniel Strauß Recht, zwei Polizisten und ein Gerichtsvollzieher öffneten ihm die Wohnung. Diese drei aber äußerten Sympathie für den Vermieter, sie "standen nicht auf Seiten des Rechts", erinnert sich Daniel Strauß.

Daniel Strauß zwischen dem Bundespräsidenten und seiner Lebensgefährtin (Foto: imago/Jens Jeske)
Daniel Strauß (Mitte), willkommen beim Empfang von Bundespräsident Joachim Gauck, wurde als Mieter abgelehntBild: imago

Auch seine Kinder hätten unter der Diskriminierung gelitten, nicht nur in Wohnungsfragen. Als sein Sohn sich bei Banken bewarb, wurde er trotz hervorragender Noten abgelehnt, weil er auch die Roma-Sprache Romanes beherrscht. Umfragen bei den Mitgliedern der Minderheit zeigten, sagt Strauß, dass mehr als 80 Prozent schon einmal diskriminiert wurden.

Alle Schüler sollen etwas über die Minderheit lernen

Der Staatsvertrag in Baden-Württemberg soll für Aufklärung sorgen. Das Land sagt zu, Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in den Bildungsplänen für die Schulen zu verankern und so zu lehren, "dass auch möglichen Vorurteilen entgegengetreten wird". Eine Forschungsstelle zur Geschichte und Kultur der Minderheit wie auch zum Antiziganismus soll entstehen.

Antiziganismus ist "ein Makel der Mehrheitsgesellschaft", so sieht es Tom Koenigs, Mitglied des Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen, der den Menschenrechtsausschuss des deutschen Parlaments geleitet hat. Er zieht einen Vergleich zur Bürgerrechtsbewegung in den USA: "Nigger-Schnitzel" würde es in den Vereinigten Staaten nicht geben, in Deutschland aber gebe es immer noch "Zigeunerschnitzel".

Beratung für Roma-Zuwanderer

Seitdem vermehrt über rumänische und bulgarische Zuwanderer berichtet wird, unter denen auch Roma sind, hat sich der Antiziganismus verstärkt. Im Staatsvertrag verpflichtet sich der Landesverband Deutscher Sinti und Roma, nichtdeutsche Sinti und Roma bei ihrer Integration in die Gesellschaft zu unterstützen.

Daniel Strauß ist froh, dass künftig in einem gemeinsamen Rat von Regierung und Minderheit regelmäßig über die Anliegen der Sinti und Roma gesprochen wird. Der wirtschaftlich erfolgreiche deutsche Südwesten wird oft "Musterländle" (Regionaler Ausdruck für einen Vorzeigestaat Anm. d. Red.) genannt. Der Baden-Württemberger Strauß wünscht sich, dass dieses Selbstverständnis, "wir wollen die Besten sein, auch auf die Sinti und Roma bezogen wird". Die anderen Bundesländer, sagt er lachend, "die müssen nachziehen".