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Hirnforscher spricht über Primatenversuche

Fabian Schmidt11. Mai 2015

Sind Tierversuche an Affen wirklich notwendig? Der Tierphysiologe Andreas Nieder sagt: "Ja!". Viele neuronale Erkrankungen und Infektionskrankheiten können wir erst durch diese Forschung verstehen und bekämpfen.

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Rhesusaffe (Foto: AP)
Infektionsforschung und Hirnforschung sind zwei medizinische Forschungsbereiche, die Rhesusaffen einsetzenBild: AP

Deutsche Welle: Professor Nieder, Ihr Kollege Nikos Logothetis, Direktor der Abteilung Physiologie Kognitiver Prozesse am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, hat den Beschluss gefasst, sich aus der Forschung mit Primaten zurückzuziehen, weil er starken Anfeindungen und auch Drohungen von Tierversuchsgegnern ausgesetzt war. Wie haben Sie und Ihr Kollegenkreis darauf reagiert?

Andreas Nieder: Wir haben alle diese Entscheidung mit großem Bedauern wahrgenommen, weil hier eine ganz wichtige und international anerkannte Forschung beendet werden wird. Ich denke, es ist skandalös, dass Entscheidungen in einem Rechtsstaat auf diese Weise herbeigeführt werden, indem man Druck auf Wissenschaftler ausübt, sie anfeindet und bedroht.

Ist Ihnen das auch schon passiert?

Bedrohungen und Anfeindungen gibt es immer wieder mal. Es ist eine Sache, mit der man sich arrangiert. Obwohl die Notwendigkeit nicht verständlich ist, in einem Rechtsstaat, in dem es eindeutige Gesetze gibt. Das, was wir als Wissenschaftler machen, ist einerseits legal: Wir holen Genehmigungen ein, bevor wir unsere Forschungsvorhaben durchführen und wir richten uns nach dem Deutschen Tierschutzgesetz. Und es ist auch legitim: Es ist meine feste Überzeugung, dass wir nach einer sorgfältigen Güterabwägung einen vernünftigen Grund haben, solche Tierversuche durchzuführen.

KONKRETER NUTZEN

Was sind es denn für Forschungsergebnisse, die Sie gar nicht erzielen könnten, wenn Sie solche Versuche nicht durchführen könnten?

Zu den zwei wichtigsten biomedizinischen Bereichen, aus denen Primaten derzeit nicht wegzudenken sind, gehört einerseits die Infektionsforschung: Es gibt viele primatenspezifische Krankheitserreger, die nur Primaten und den Menschen betreffen und nur an diesen untersucht und bekämpft werden können, zum Beispiel durch die Herstellung von Impfstoffen. Beispiele sind HIV, Hepatitis C und Ebola. Ein zweiter großer Bereich ist sicher die Hirnforschung, die Neurobiologie. Hier geht es darum, primatenspezifische Strukturen und Funktionen verstehen zu lernen und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, sodass in der Medizin auch Menschen mit Gehirnverletzungen oder neurologischen Erkrankungen geholfen werden kann. Eins der klassischen Beispiele sind die sogenannten Hirnschrittmacher oder die tiefe Hirnstimulation. Bei Patienten mit Morbus Parkinson kann man durch die Implantation von Elektroden tief in das Gehirn bestimmte Erkrankungssymptome erleichtern oder wegnehmen. Über die Elektroden werden regelmäßig physiologische Ströme abgegeben, sodass gestörte Schaltkreise im Gehirn wieder ins Gleichgewicht kommen und die für Morbus Parkinson spezifische Symptomatik verschwindet. Das ist ein Behandlungsansatz, der explizit an Affen entwickelt wurde und dann sehr erfolgreich auf den Menschen übertragen werden konnte.

Wusste man, als man hier an Affen mit Elektroden experimentierte, was später als Anwendung herauskommen würde?

Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber nachdem man wusste, was die Ursache von Morbus Parkinson ist - nämlich das Absterben bestimmter Zellgruppen im Mittelhirn - die Dopamin ausschütten, hat man versucht, die Fehlfunktion der Schaltkreise, die von diesem Neuromodulator betroffen sind, durch diese physiologischen Strömchen auszugleichen und wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Man hat dann am Affenmodell gesehen, dass es funktioniert - also, dass an Morbus Parkinson erkrankte Affen durch diese Stimulation symptomfrei wurden. Und dann konnte man diese Behandlungsmethode auf den Menschen übertragen - mit den Erfolgen, die man heutzutage sieht.

Andreas Nieder (Foto: Andreas Nieder).
Andreas Nieder sagt, es gibt keinen medizinischen Fortschritt ohne GrundlagenforschungBild: Andreas Nieder

Tierversuchsgegner werfen der Grundlagenforschung ja oft vor, dass der konkrete Nutzen für die Medizin oft nicht fassbar ist. Um es überspitzt zu sagen: "Der Forscher fügt den Tieren aus reiner Neugier Leid zu - um zu sehen, was passiert, wenn man etwas Bestimmtes tut." Wie gehen Sie mit dieser Diskrepanz zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung um?

Ich glaube, diese Diskrepanz zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung gibt es nicht: Das ist ein Kontinuum von einer sehr an Grundlagen orientierten Forschung bis hin zu einer klinischen Anwendung. Dass eine gesunde wissenschaftliche Neugierde dazugehört ist unbestritten, aber das kennzeichnet jede naturwissenschaftliche Disziplin. Das heißt nicht, dass wir sinnlos und ohne jeden vernünftigen Grund vor uns hin forschen würden. Wir haben natürlich auf lange Sicht Heilungsmethoden im Blick.

Aber wir können nicht heute entscheiden: "Wir finden jetzt eine Heilung für die Krankheit-X" und dann wird es nach zwei Jahren schon eine Behandlungsmethode geben. So einfach sind die Lebensprozesse leider nicht. Deswegen ist es völlig legitim, dass sich Wissenschaftler auf bestimmte Aspekte und Bereiche spezialisieren, die dann anderen Forschern wieder weiterhelfen, am Ende Behandlungsmethoden zu entwickeln.

Wo würden Sie für sich eine Grenze ziehen und sagen: "An so einer Forschung würde ich mich nicht beteiligen"?

Eine Grenze wäre eindeutig erreicht, wenn sich herausstellen würde, dass die Versuche auch langfristig keinen Nutzen bringen würden. Aber das ist nicht der Fall. Wenn man sich die Medizingeschichte anschaut, basieren alle Behandlungsmethoden auf tierexperimenteller Forschung. Eine andere Grenze wäre, wenn sich herausstellen würde, dass andere Methoden einen Tierversuch ersetzbar machen. So weit sind wir leider in den allermeisten Bereichen noch nicht. Eine dritte Grenze wäre, wenn sich herausstellt, dass man die Tiere nicht bestmöglich behandeln kann, um die Belastungen zu minimieren. Auch dann sollte man von dieser Art der Forschung Abstand nehmen. Die Ziele der Tierversuche müssen ganz klar sein: biomedizinisches Wissen mehren um Behandlungsmethoden entwickeln zu können. Rein ökonomische Ziele oder die Herstellung von Luxusgütern sollte man auf jeden Fall ablehnen.

TIERSCHUTZ IM LABOR

Wie stellen sich die Tierschutzauflagen dann in der Praxis dar - im Labor?

Wir müssen unsere Experimente vorab den Behörden vorlegen, ebenso einer Ethikkommission, die diese Eingriffe wissenschaftlich und ethisch bewertet. Wir müssen eine Güterabwägung vornehmen und sicherstellen, dass der zu erwartende Nutzen die Belastungen für die Tiere überwiegt, um einen solchen Versuch durchführen zu dürfen und genehmigt zu bekommen. Wenn wir die Versuche dann durchführen, werden wir von Veterinäramt überwacht. Da kommen dann die Tierärzte des Amtes unangekündigt oder auch angekündigt ins Labor und kontrollieren, dass die Bestimmungen auch eingehalten werden. Unter all den Bereichen, in denen wir Menschen mit Tieren umgehen, sind Tierversuche der mit Abstand am stärksten reglementierte Bereich.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die allermeisten Tiere - über 99 Prozent - als Nahrungsmittel getötet werden. Das sind in Deutschland 500 bis 600 Millionen Tiere pro Jahr. Auch wenn wir Tiere als Haustiere halten, fragen wir sie nicht, ob sie das wollen oder nicht. Wir gehen mit ihnen zum Tierarzt und auch der Tierarzt nutzt Behandlungsmethoden und Medikamente, die ja im Tierversuch entwickelt und getestet wurden. Und weniger als ein Prozent der in Deutschland getöteten Tiere fällt in den Bereich der tierexperimentellen Forschung - ein Bereich, der in meinen Augen die stärkste ethische Rechtfertigung hat, denn hier geht es tatsächlich um die Gesundheit und um das Leben von Menschen.

Was für ein Verhältnis bauen Sie zu Ihren Versuchstieren auf?

Wir sehen die Tiere täglich, auch mehrmals am Tag und auch abseits der Experimente, wenn wir in die Tierhaltung gehen. Es entwickelt sich natürlich ein bestimmtes Verhältnis zu den Tieren. Ich glaube, man kann sich das so ähnlich wie auf einem Bauernhof vorstellen. Das sind sehr stabile Beziehungen, die sich da zwischen den Forschern und den Affen entwickeln: Die Tiere arbeiten lange Zeit mit den gleichen Wissenschaftlern zusammen und die beiden kennen sich dann genau und wissen, was sie voneinander zu erwarten haben.

Tierschützer kritisieren den Stress, dem die Tiere im Laufe einer Arbeitswoche ausgesetzt sind. Können Sie den Ablauf im Leben eines Tieres beschreiben?

Die Tiere übernachten mit ihren Artgenossen in sozialen Kleingruppen in großen Gruppengehegen.

Typischerweise kommen sie dann vormittags ins Labor, arbeiten dort zwei bis drei Stunden, wenn sie trainiert werden. Um die Mittagszeit werden sie zurück in die Gehege gebracht und verbleiben dann dort bis zum nächsten Tag. Die allermeiste Zeit sind die Tiere also wirklich in der Tierhaltung. Deshalb gestaltet man die Bedingungen dort auch möglichst artgerecht. Wenn einem das gelingt, hat man tatsächlich einen großen Schritt im Sinne des Tierschutzes erreicht. Wir arbeiten ja insgesamt viele Jahre mit den Tieren, deshalb ist die Primatenforschung auch der Bereich, der mit Abstand mit den geringsten Tierzahlen auskommt.

DER AFFE IM MENSCHEN

Das, was Primaten so interessant für die Forschung macht - nämlich die Ähnlichkeit zum Menschen - ist ja auch einer der Gründe, warum die Öffentlichkeit auf Bilder von Tierversuchen so emotional reagiert. Der Anteil derer, die Versuche mit Affen ablehnen ist ja viel höher als etwa bei Mäusen. Wie diskutieren Sie diese Problematik im Kollegenkreis?

Primaten stellen sich als Kristallisationspunkt der ganzen Diskussion dar. Wissenschaftlich ist das allerdings schwierig zu verstehen, denn wir sprechen von einer zoologischen Ordnung der Primaten. Die umfasst etwa 350 verschiedene Arten, und ich bin ziemlich sicher, dass viele Menschen einige dieser Tiere gar nicht den Primaten zuordnen würden, wenn man ihnen das nicht sagen würde. Ich verstehe nicht, wieso die Primaten als zoologische Ordnung ethisch und in der Öffentlichkeit so sehr anders wahrgenommen und behandelt werden als andere Säugetiere. Ich verstehe, dass es eine hochentwickelte Tiergruppe ist. Aber darin liegt auch begründet, dass mit Primaten nur gearbeitet wird, wenn es keine Alternative gibt - also kein anderes Tiermodell, an dem man die gleichen Erkenntnisse gewinnen könnte. Deswegen ist die Primatenforschung zahlenmäßig eigentlich auch verschwindend gering. Unter allen Tieren, die in Deutschland in Tierversuchen verwendet werden, sind Primaten weniger als 0,1 Prozent. 85 Prozent der Versuchstiere sind Nagetiere.

ZUKUNFT DER TIERVERSUCHE

Werden Tierversuche irgendwann überflüssig sein?

Das liest man zwar oft, nach meinem derzeitigen Wissensstand als Physiologe sehe ich aber nicht, dass Tierversuche bald ersetzbar sein würden.

Ist es vielleicht sogar so dass durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die erstaunlichen Fortschritte in der Mikrobiologie in den letzten 20 bis 30 Jahren die Fragestellungen der Forscher eher noch zunehmen werden, und damit auch die Tierversuche?

Gut möglich. Beispiele für diese Entwicklung sind etwa transgene Primatenmodelle, also Krankheitsmodelle an Primaten, um genetische Erkrankungen wie die Huntington-Krankheit zu untersuchen. Da gibt es sehr erfolgversprechende Ansätze, die gerade entwickelt werden. Das könnte tatsächlich mittelfristig dazu führen, dass mehr Primatenversuche benötigt werden und dann auch durchgeführt werden - weil man jetzt ganz neue Möglichkeiten hat, diese Krankheiten auf der genetischen Grundlage zu verstehen. Auch im Bereich der Infektionsforschung und der Immunologie, mit der Entwicklung der monoklonalen Antikörper, die dann sehr primaten- und humanspezifisch wirken, wird man die auch über kurz oder lang an nichthumanen Primaten testen und entwickeln müssen, weil andere Tiermodelle darauf gar nicht mehr reagieren.

Das sollte man mitdenken und dafür auch die Augen öffnen, damit man mit dem Problem ehrlich umgehen kann. Wir alle sind heilfroh, wenn wir in der Zukunft bessere Behandlungsmethoden bekommen. Die Frage ist dann: Werden diese Methoden in Deutschland mit unseren sehr strengen Regeln und einem sehr strengen Tierschutz entwickelt, oder werden sie woanders entwickelt, wo es um den Tierschutz nicht so gut bestellt ist.

Dr. Andreas Nieder ist Professor für Tierphysiologie und Direktor des Instituts für Neurobiologie an der Universität Tübingen. An Primaten und Krähen erforscht er unter anderem, wie bestimmte Hirnbereiche intelligentes, zielgerichtetes Verhalten ermöglichen.

Das Interview führte Fabian Schmidt.