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"Dr. Klaus ist helfen, helfen, helfen"

Greta Hamann3. August 2015

Wohnungslose, Arme, Ausgestoßene. Seit zehn Jahren behandelt Dr. Klaus Harbig ehrenamtlich Patienten, die am Rande der Gesellschaft leben. Ein Besuch in seiner Praxis in der Dortmunder Innenstadt.

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Patientin Lagramiora und Dr. Klaus Harbig stehen nebeneinander im Behandlungsraum in der Dortmunder Praxis (Foto: DW/G. Hamann)
Lagramiora aus Rumänien (l.) kommt seit zwei Jahren zu Dr. HarbigBild: DW/G. Hamann

Ob Dr. Harbig ein Held sei: "Ohhh, ohhhh, ohhhh", antwortet die junge Frau. Sie nickt, ihre Augen fangen an zu leuchten - und die dunklen hochgezogenen Augenbrauen schicken drei Ausrufezeichen hinterher. Sie kann zwar nur wenig Deutsch. Doch sie weiß, wie sie sich ausdrücken muss, damit man genau versteht, was sie meint: "Dr. Klaus ist helfen, helfen, helfen." Sie schaut über den Schreibtisch im kleinen Sprechzimmer, er sitzt ihr gegenüber und lacht. Die Frau strahlt über das ganze Gesicht: "Ja, das ist Dr. Hero. Super Hero der Doktor, ehrlich."

Ihr Name ist Lagramiora und sie kam vor vier Jahren nach Deutschland. Sie wollte nicht weiter in ihrer Heimat Rumänien leben. Es gab dort keine Arbeit, wie sie erzählt. Hier in Deutschland, so hatte sie gehofft, würde es ihr besser gehen. "Seit zwei Jahren schauen ich nach Arbeit, aber es gibt nichts für mich. Dabei muss ich Strom, Wasser, Miete und Essen bezahlen", sagt sie in gebrochenem Deutsch.

Seit zwei Jahren verkauft Lagramiora eine Obdachlosenzeitung, die "Bodo". Für jede verkaufte Ausgabe erhält sie selbst 1,25 Euro. Doch Lagramiora muss nicht nur für sich, sondern auch noch für ihren neunjährigen Sohn und ihren 13-jährigen Neffen sorgen. Sie spricht viel über Geld. Vor allem über das, was sie nicht hat. Lagramiora geht es wie vielen Patienten von Dr. Klaus Harbig, sie lebt am Existenzminimum.

Die Anmeldung der Praxis in Dortmund (Foto: DW/G. Hamann)
Bis zu 70 Patienten kommen pro SprechstundeBild: DW/G. Hamann

Auch Klaus Harbig erzählt vom Geld - davon wie er seines abgegeben hat. Als der heute 74-Jährige vor zehn Jahren in Rente ging, machte er einen Schnitt in seinem Leben: "Ich habe das Haus meiner heute getrennt lebenden Frau übergeben und mein Vermögen der ganzen Familie." Er hat drei Kinder und vier Enkelkinder - das fünfte ist bereits unterwegs. "Ich habe mir damals gesagt, ich kann nicht so in meine wohlhabende Umgebung zurückgehen, das macht keinen Sinn." Das sei sein Stil sagt er. Jetzt lebt er in einer kleinen Wohnung und teilt sich seine Rente mit seiner Frau.

"Woanders starren mich alle an"

Gleich ist es 16 Uhr, vor dem milchigen Fensterglas der Praxis zeichnen sich schon die Silhouetten mehrerer Personen ab: Eine lange Schlange hat sich vor der Tür gebildet. Wohnungslose, Hartz-IV-Empfänger, Drogenabhängige: Sie alle stehen in dieser Schlange und warten darauf, von Klaus Harbig und seiner Kollegin Felicitas Langwieder behandelt zu werden. Bis zu 70 Patienten kommen in die drei Mal wöchentlich stattfindende jeweils dreistündige Sprechstunde. Klaus Harbig ist die Konstante in der Praxis. Stets teilt er sich die Arbeit mit einem von drei weiteren Arztkollegen, die sich abwechseln.

Es ist 16 Uhr. Elga, die Sprechstundenhilfe - auch sie hilft hier ehrenamtlich aus - öffnet die Tür. Sofort ist der kleine Raum vor der Anmeldung gefüllt, die Hälfte der Patienten muss stehen. Viele, die in Klaus Harbigs Sprechstunde kommen, trauen sich nicht, zu einem anderen Arzt zu gehen. "Ich gehe ungern woanders hin, ich kann nicht so gut im Wartezimmer sitzen, alle starren mich an", erzählt Christian. Der 37-Jährige hat bereits mehrere Drogenentzüge hinter sich. Er ist sehr dünn: "Ich habe 21 Kilo Untergewicht gehabt, jetzt bin ich bei 17." Er komme vorbei, um sich seine Astronautennahrung abzuholen, sagt er. Kleine Getränke in Plastikflaschen, hochkalorische angereicherte Nahrung. In einem Eimer stehen die Flaschen auf dem Boden.

Dr. Felicitas Langwieder und Dr. Klaus Harbig (Foto: DW/G. Hamann)
Dr. Felicitas Langwieder (l.) unterstützt Dr. Klaus Harbig in der Regel einmal pro WocheBild: DW/G. Hamann

Christian kommt schon sehr lange zu Dr. Klaus, wie ihn hier alle nur nennen. Hier nennt man sich beim Vornamen. "Die Mitarbeiter sind hier von den Ärzten bis zu denen hinter der Theke nett und freundlich. Die sagen nicht: Ach, der ist dreckig, der kommt hier nicht rein oder sowas. Hier steht für jeden die Tür offen."

"Der Weg in die Armut ist wie eine Schlitterbahn"

So hatte Christian früher gedacht: "Ich war verheiratet und habe ein paar Straßen weiter gewohnt und da ging es mir finanziell sehr gut. Da hatte ich noch gedacht: Da würde ich niemals, niemals hingehen. Ja, man soll niemals nie sagen." Später wurde seine Frau schwanger, das Baby starb vier Wochen nach der Geburt, plötzlicher Kindstod. "Da bin ich wie ein Stein vom Himmel gefallen, habe die Geschäfte, die Arbeit, auf alles gepfiffen."

Nach unten gehe es schnell, sagt Klaus Harbig: "Das ist wie eine Schlitterbahn." Doch der Weg zurück sei eine schwere Kletterpartie, die nur wenigen gelinge. Dass einer seiner Patienten zurück ins sogenannte normale Lebe finde, komme sehr selten vor: "Der muss erstmal einen Alkoholentzug machen oder eine Drogentherapie. Dann kommen die Rückfälle. Und dann muss er eine Arbeit finden. Dann hat er noch Strafen offen. Oder dann sucht er eine Wohnung und steht in der Schufa."

Das Gast-Haus (r.) und die Praxis (l.) auf der Rheinischen Straße in Dortmund (Foto: DW/G. Hamann)
Das Gast-Haus (r.) und die Praxis (l.) auf der Rheinischen Straße in DortmundBild: DW/G. Hamann

Er betreibe eher Schadensbegrenzung, so Harbig. "Hier jemanden zu heilen ist sehr schwer." Er habe in der Praxis gelernt, bei Husten nicht erst an eine Bronchitis zu denken, sondern an Tuberkulose. Infektionen, denen Ärzte in anderen Praxen selten begegnen, sieht Harbig fast täglich: Heptatis A, B oder den HI-Virus. Auch die Krätze hätten viele seiner Patienten.

"Endlich arbeiten, ohne Geld zu verdienen"

Bis vor drei Jahren war die Praxis noch im Haus nebenan in einem Hinterzimmer untergebracht. Die medizinische Sprechstunde ist Teil der Initiative "Gast-Haus statt Bank". Hier bekommen Wohnungslose und andere Bedürftige täglich Frühstück. Auch können sie duschen, ihre Wäsche waschen und drei Mal wöchentlich gibt es nachmittags Kaffee und Kuchen. Alles wird durch Sach- und Geldspenden finanziert.

Dass die Praxis mittlerweile eigene Räume und eine komplette Einrichtung hat, ist einem Menschen zu verdanken, der selbst keine Krankenversicherung hatte. Dafür aber viel Geld. In der Praxis erinnert eine Bleistiftzeichnung an den Mann, der einen Großteil seines Erbes Klaus Harbig und somit der Wohnungsloseninitiative vermachte. Sein Name: Günther Zimmermann. An der Wand hängt eine Zeichnung, weil es kein Foto von ihm gab - nur das aus seinem Personalausweis, erzählt Klaus Harbig.

Harbig lernte den Mann ohne Familie bei seiner zweiten Tätigkeit kennen. Er betreut als Palliativmediziner Menschen, die im Sterben liegen. Auch diese Menschen sind eine Randgruppe in Deutschland und auch um diese kümmert der 74-Jährige sich. Und wenn er von diesen Aktivitäten eine Auszeit braucht, nimmt Klaus Harbig sich "Arbeits-Urlaub", wie er es lachend nennt. Dann fliegt er nach Bolivien oder Nepal, wo er zwei Projekte als Arzt mit kostenlosen Behandlungen unterstützt.

Dr. Klaus Harbig steht mit seiner Kollegin Dr. Felicitas Langwieder an der Rheinischen Straße vor dem Dortmunder "U". (Foto: DW/G. Hamann)
Dr. Klaus Harbig (l.) mit seiner Kollegin Felicitas Langwieder. Die Praxis befindet sich direkt vor dem Dortmunder "U", einem Wahrzeichen Dortmunds und ehemaligem Sitz der Dortmunder Union Brauerei.Bild: DW/G. Hamann

Er sei auf einer Aufholjagd, sagt Harbig: "Der Arztberuf und Geld verdienen war für mich immer ein gewisser Zwang, den ich akzeptiert habe, der mir aber nicht gefallen hat. Ich finde die ärztliche Tätigkeit ist primär auf den Menschen und nicht auf das Geldverdienen gerichtet." Als er dann Rentner war, konnte er seinen Traum, ohne Geld zu verdienen arbeiten zu können, so nennt Harbig das, endlich erfüllen. Wann er denn wirklich mal in Rente gehen wolle: "Also diese Arbeit, die ich jetzt mache, die möchte ich eigentlich machen bis es nicht mehr geht und dann… ja, mal sehen, was dann kommt."