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Junge Flüchtlinge dringend gesucht

Sabine Kinkartz, Berlin2. November 2015

Deutschen Unternehmen geht der Nachwuchs aus. Vor allem in Ostdeutschland bleiben Lehrstellen unbesetzt. Können Flüchtlinge die Lücken füllen? Ein Beispiel aus Brandenburg.

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Bildungszentrum Hennickendorf bei Berlin
Bild: DW/S. Kinkartz

Kopfsteinpflaster, ein kleiner Kreisverkehr, eine Eisdiele, daneben das örtliche Beerdigungsinstitut. Rings herum viele Wälder, Wiesen und Seen, ein wahres Naturparadies. Das ist Hennickendorf im Osten Brandenburgs. Gerade einmal vierzig Kilometer sind es bis zur Berliner Stadtmitte. Dennoch wandern immer mehr junge Menschen aus der Region ab, viele auch, um zu studieren. "Wir haben in diesem Lehrjahr mit Stand 29. Oktober 719 Lehrlinge, aber zurzeit noch 250 freie Lehrstellen registriert", sagt Uwe Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Frankfurt/Oder. "Wir wären also in der Lage, noch mehr auszubilden, und auch die Betriebe sind dazu bereit."

Fachkräftemangel ist in Ostbrandenburg kein theoretisches Problem mehr. Händeringend suchen vor allem kleine Handwerksbetriebe Nachwuchs. Auch im Berufsbildungszentrum, das die Handwerkskammer in Hennickendorf betreibt, bleiben immer mehr Plätze leer. Neben angehenden Handwerksmeistern werden hier in modernen Werkstätten Lehrlinge überbetrieblich ausgebildet. Angeschlossen ist ein Gästehaus mit 60 Betten, eine Kantine bietet Vollverpflegung an.

Bildungszentrum Hennickendorf bei Berlin
Schweißen will gelernt seinBild: DW/S. Kinkartz

Fit machen für den Beruf

Wolf-Harald Krüger, Präsident der Handwerkskammer Frankfurt/Oder, könnte sich vorstellen, in Hennickendorf auch junge Flüchtlinge aufzunehmen. "Wenn das beispielsweise eine Klasse von betreuten Jugendlichen wäre, zwischen 15 oder 16 Jahre alt, dann kann man denen hier in den Berufen Metallbau, oder Kfz-Mechaniker oder Maler eine Grundorientierung geben und die deutsche Sprache beibringen."

Dafür wären Sprachlehrer nötig, wahrscheinlich aber auch zusätzliche Fachlehrer. Das hänge von der schulischen Vorbildung der Flüchtlinge ab, meint Uwe Hoppe. "Von uns weiß niemand, was der Abschluss einer achten oder zehnten Klasse in Syrien bedeutet, aber unsere Berufsschulen satteln auf diese Kenntnisse ja auf." Wenn es Defizite gebe, müssten die in dem lehrpraktischen Jahr mit vermittelt werden. "Es kann niemand eine Sanitär-Heizung-Klimaanlage ordentlich programmieren, wenn er in Mathematik nicht die Voraussetzungen mitbringt", so Hoppe.

Finanzierung durch den Bund

Wolf-Harald Krüger ist sich sicher, dass den Flüchtlingen nach dem lehrpraktischen Jahr alle Türen offen stehen würden. "Von vielen Kollegen aus dem Handwerk ist mir hundertprozentig versichert worden, dass sie so einem jungen Menschen sofort einen Lehrvertrag anbieten würden." Das hört Bundesbildungsministerin Johanna Wanka gerne. Wenn die Handwerkskammer eine Übernahme in eine Ausbildung garantiere, so betont sie, dann könne sich ihr Ministerium durchaus vorstellen, eine Berufsvorbereitung zu finanzieren.

Bildungszentrum Hennickendorf bei Berlin
Bildungsministerin Wanka im Gespräch mit Handwerkskammer-Präsident Krüger und einem AusbilderBild: DW/S. Kinkartz

Wanka sieht darin auch eine Chance, Flüchtlinge, die es in der Regel in große Städte wie Hamburg, Berlin oder Köln zieht, für das Landleben zu begeistern. Das könnte insbesondere für diejenigen gelten, die nur eine Duldung in Deutschland haben, solange sie minderjährig sind. Wer eine Ausbildung macht, kann in Deutschland bleiben und muss nicht damit rechnen, während der Lehre abgeschoben zu werden.

Doch auch nach der Ausbildung könne es in Deutschland weitergehen, verspricht Wanka. "Wenn jemand die Ausbildung erfolgreich absolviert hat und ihn jemand in seinem Beruf einstellt, das muss nicht der Ausbildungsbetrieb sein, dann kann er zwei Jahre dort ohne Vorrangprüfung arbeiten und ist auch sicher und muss nicht zurück." Anschließend bestehe die Möglichkeit, für weitere zwei Jahre auch in einen anderen Beruf zu wechseln. "Danach sind die Chancen, in Deutschland bleiben zu dürfen, sehr groß", so die Bildungsministerin.

Chance auch für unbegleitete Minderjährige

Auch der Landrat der ostbrandenburgischen Region Märkisch-Oderland ist sehr daran interessiert, Ausbildungsplätze für junge Flüchtlinge zu finden. Gernot Schmidt ist von Amts wegen für ihre Unterbringung und Versorgung zuständig. Schon jetzt betreut er 50 unbegleitete Minderjährige. Absehbar werden es mehr werden und viele davon werden nicht mehr schulpflichtig sein. "Also ohne eine vernünftige Ausbildung wird das nichts, wenn sie hier mit 15 oder 16 Jahren in unser Land kommen", stellt Schmidt fest. "Nichts ist schlimmer für uns, als wenn wir jedes Jahr 200 junge Menschen bekommen und die wandern uns dann später in die Sozialsysteme ab."

Bildungszentrum Hennickendorf bei Berlin
60 Betten hat das Gästehaus in HennickendorfBild: DW/S. Kinkartz

Denn dann müsste der Landkreis für ihren Unterhalt aufkommen. Schon jetzt sind die minderjährigen Flüchtlinge ein großer Haushaltsposten im Etat. 7.000 Euro monatlich müsse er pro Flüchtling für eine Heimunterbringung zahlen, rechnet Schmidt vor. Wenn sich eine Pflegefamilie findet, reduzieren sich die Kosten auf 1.500 Euro. Kein Wunder, dass Landrat Schmidt kreative Ideen entwickelt.

Chef und Vormund

So könnte er sich durchaus vorstellen, Handwerksmeister, die einen jungen Flüchtling ausbilden wollen, gleichzeitig als Pflegevormund zu gewinnen. "Natürlich muss jemand, der zum Beispiel einen jungen Mann zum Maurer ausbildet, sich auch mal mit der Kultur befassen und auch eine, ich will nicht sagen pädagogische, aber eine Grundlagenausbildung machen." Anschließend könne dieser Handwerker vom Landkreis einen Pflegevertrag erhalten und bekomme den finanziert.

Bleibt noch die Frage, ob die jungen Flüchtlinge auf Dauer in einer Region heimisch werden, die derzeit auch durch ausländerfeindliche Demonstrationen und Anschläge auf sich aufmerksam macht. "Ich glaube doch", antwortet Handwerkskammer-Geschäftsführer Uwe Hoppe und gibt sich optimistisch. Schließlich habe seine Kammer Erfahrung, derzeit würden auch 30 junge Polen in der Region betrieblich ausgebildet. "Wir haben eine Reihe von Betrieben und Unternehmen, dort heißt es wie auch in unserer Imagekampagne: Es ist nicht entscheidend wo jemand herkommt, sondern wo er hin will."