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Mit den Frauen gegen den Fundamentalismus

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
12. Dezember 2015

Bei den Kommunalwahlen in Saudi-Arabien haben Frauen zum ersten Mal aktives und passives Wahlrecht. Bei allen Defiziten ein guter Schritt, meint Kersten Knipp.

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Eine Kandidatin für die Regionalwahlen in Saudi-Arabien, 29.11.2015 (Foto: AFP / Getty Images)
Bild: Getty Images/AFP/F. Nureldine

Bald also werden sie mit über die Entwicklung ihrer Städte und Ortschaften entscheiden, die saudischen Frauen, die an diesem Wochenende in die Kommunalräte des Landes gewählt werden. Dort gibt es viel zu tun. Schulen, Straßen, Krankenhäuser: all dies und noch viel mehr muss verwaltet werden - ab sofort nicht mehr nur von Männern, sondern auch den Frauen des Königreichs. Ein wichtiger und guter Schritt. Und zwar aus vielen Gründen.

Zunächst einmal, weil er jeder einzelnen Frau, die in einem der Parlamente sitzt, ganz persönlich einen zusätzlichen Lebenssinn gibt. Immer noch unterliegt die weibliche Hälfte der saudischen Bevölkerung einem eisernen, chauvinistischem Regime. Zwar arbeiten eine ganze Reihe von ihnen inzwischen als Lehrerinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen. Auch weibliche Unternehmerinnen sind längst aktiv, ebenso haben etwa Autorinnen oder Wissenschaftlerinnen sich ihren Weg in die saudische Öffentlichkeit gebahnt. Aber fast alle entstammen sie den Eliten des Landes, und noch sind es verhältnismäßig wenige.

Opposition im Alltag

Die anderen müssen erleben, dass das öffentliche Leben (fast) ohne sie auskommt: Vor Gericht gelten ihre Aussagen nur halb so viel wie die von Männern. Autos steuern dürfen sie nach wie vor nicht. Als Kleidungsfarbe kommt ausschließlich Schwarz in Frage. Die Vielehe ist weiter eine feste Institution im Land.

Ein starkes Parfüm, ein deutlich geschminktes Gesicht, dessen Teile hie und da aufblitzen: Das sind sie, die Insignien des Widerstands, die kleinen Zeichen der Rebellion. Es gibt andere: exzessiver Konsum etwa, oder Autofahren dort, wo der Staat nicht hinschaut - auf großen Privatgrundstücken oder irgendwo in den Weiten der Wüste: Alles Formen, dem Puritanismus den Kampf anzusagen. Zugleich aber auch: Bedrückende Zeichen der Ohnmacht, der Verschwendung von Lebenskraft und Lebenszeit.

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DW-Autor Kersten Knipp

Dass Frauen nun in die saudischen Stadträte einziehen können, ist auch darum begrüßenswert, weil dies das religiöse Establishment des Landes weiter in die Defensive drängt. Dieses, allen voran der 1971 gegründete "Rat der Großen Gelehrten", hält sich weiter an die alte Abmachung: Über die Politik entscheidet das Königshaus, das soziale Leben haben die Religionsgelehrten im Griff. In Abertausenden von Fatwas regeln sie Alltagsfragen bis ins Kleinste, erlassen Gutachten um Gutachten, die nicht zuletzt eines leisten: Sie lenken die Bevölkerung ab von den eigentlichen, den politischen Fragen. Wer sich Tag für Tag fragt, ob sein Alltag hinreichend gottesfürchtig ist, hat für andere Dinge weder Kraft noch Zeit.

Omnipräsente Religionsgelehrte

Im Zentrum dieser verhexten Welt stehen die Frauen. Zu deren Leben betreffenden Fragen, so eine Schätzung, haben die Religionsgelehrten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über 30.000 Fatwas erlassen. Ehe, Körperpflege, medizinische Fragen: kein Bereich, in den die frommen Männer mit ihren Gutachten nicht hineindrängen. Der Grund ihres Eifers liegt auf der Hand: Auch, vielleicht sogar insbesondere über die Frauen kontrolliert man die Gesellschaft eines Landes. Und diese gilt es ruhig zu halten. Dafür sind die Religionsgelehrten da, dafür werden sie bezahlt - einige von ihnen im Übrigen fürstlich.

Die Kommunalwahlen sind nun ein Schritt in die andere Richtung. Zurück gehen sie im Kern auf den 11. September 2001, als saudische Terroristen Flugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon in den USA lenkten. Seitdem nahm der weltweite Druck auf das Land zu, es musste der extremistischen Ideologie entgegentreten. Wiederum im Zentrum: die Frauen. An ihrer Stellung lässt sich der Zustand der gesamten Gesellschaft ablesen. Darum ist Genderpolitik in Saudi-Arabien gewissermaßen Fundamentalpolitik. Denn größere Freiheit für sie heißt im saudischen Kontext nichts anderes als dass der Fundamentalismus zurückgedrängt wird. Insbesondere im Zeitalter der Terrorbande "Islamischer Staat" wird eben das von Saudi-Arabien immer stärker erwartet.

Insofern kann man die Zulassung der Frauen zu den Wahlen zwar als Ausdruck einer gelenkten Demokratisierung sehen. Aber trotzdem ist es eine Demokratisierung, auch wenn die eigentlichen politischen Fragen weiterhin von Männern entschieden werden. Und bei allen Defiziten: Mit diesem Schritt verscheucht Saudi-Arabien ein Stück weit die wahhabistischen Gespenster.

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika