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Tabubruch am Gen

2. Februar 2016

In Großbritannien wurde erstmals Genmanipulation am menschlichen Embryo genehmigt. Höchste Zeit für die überfällige Debatte: Wollen wir menschliches Erbgut den Ingenieuren überlassen? Matthias von Hein kommentiert.

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Symbolbild Stammzellenforschung USA
Bild: Getty Images/S. Platt

Es ist ein Tabubruch. Er ist kalkuliert. Er kommt nicht überraschend. Es ist nicht das erste Mal, dass die Wissenschaft die Gesellschaft vor sich her treibt. Leider ist der Motor wissenschaftlicher Entwicklung nicht allein reiner, idealistischer Erkenntnisdrang. Genauso wenig, wie Forscher ausschließlich vom Gemeinwohl beseelt sind. Wirksamere Kräfte sind wohl Ehrgeiz, Konkurrenzdenken, Geschäftsinteressen. Die Devise heißt: Was machbar ist, wird gemacht - bevor es ein anderer tut.

Ist eine Diskussion jetzt noch möglich?

Da scheint es fast unmöglich, gesellschaftlich über Nutzen und Risiken neuer Techniken zu diskutieren, eine nüchterne Abschätzung der Folgen vorzunehmen und - in der besten aller Welten - international bindende Standards zu setzen. Vor allem, wenn auf einmal ein neues Instrument im Werkzeugkasten auftaucht. Bei der jetzt in in Großbritannien genehmigten Manipulation menschlicher Embryos kommt das erst kürzlich entwickelte Crispr/Cas9-Verfahren zu Einsatz.

Die Entdeckung dieser Genschere vor drei Jahren hat in der Biologie ein Beben ausgelöst, dessen Ausläufer jetzt die Öffentlichkeit erreichen: Das Erbgut von lebenden Zellen aller Art kann beliebig verändert werden - schnell, hochpräzise und: billig! Das macht die neue Methode auch für kleine Labore mit kleinem Budget interessant, für große Labore in Ländern mit niedrigeren Standards sowieso. Im vergangenen April machte die Meldung Furore, ein südchinesisches Forscherteam habe erstmals Eingriffe an - nicht lebensfähigen - menschlichen Embryonen vorgenommen. Und seit Ende September verkauft in der chinesischen Hauptstadt das Beijing Genome Institute mit der Genschere modifizierte Schweine: Die putzig aussehenden Tierchen werden nur ein Drittel so groß wie ihre natürlichen Verwandten. Die Farbgebung kann der Kunde mitbestimmen. Fazit: Die Biologie entwickelt sich anhand der Genchirurgie von einer Lebenswissenschaft zu einer Ingenieurswissenschaft.

von Hein Matthias Kommentarbild App
DW-Redakteur Matthias von Hein

Die große Frage ist: Auf welche Felder wollen wir diese neue Ingenieurswissenschaft anwenden? Auch auf uns selbst, den Menschen? Noch bevor diese Frage beantwortet ist, hat die britische Entscheidung einen Damm eingerissen. Das Vereinigte Königreich ist schon in der Vergangenheit in solchen Fragen vorgeprescht: Vor zwanzig Jahren wurde das Klonschaf Dolly in einem schottischen Labor erschaffen.

Was werden die nächsten Schritte sein?

Sicher, die Stammzellforscherin Kathy Niakan am Francis-Crick-Institut in London plant keine Designerbabys. Sie will Grundlagenforschung betreiben. Auf Grundlagenforschung folgt in der Regel aber die Anwendungsforschung. Und der Beifall in Teilen der Wissenschaft lässt eine Welle neuer Forschung erwarten: Von einem bedeutenden "ersten Schritt" ist da die Rede. Da fragt man sich: Was werden die nächsten sein? Ein Kollege Niakans vom Crick-Institut erwartet, die Genehmigung werde auch andere Wissenschaftler ermutigen, Genarbeiten am menschlichen Embryo zu beantragen.

In Deutschland hatten sich führende Genforscher noch im Sommer vergangenen Jahres klar gegen Experimente an der menschlichen Keimbahn ausgesprochen. Sie forderten ein Moratorium für Genchirurgie an menschlichen Embryonen. Ein "Gentechnik-Gipfel" in Washington, veranstaltet von den Wissenschaftsakademien der USA, Englands und Chinas, kam Ende vergangenen Jahres aber zu einem anderen Ergebnis: Dort hielt man die Grundlagenforschung in der Petrischale für vertretbar. Jetzt wird es allerhöchste Zeit, dass sich die Öffentlichkeit zu Wort meldet. Bevor die Wissenschaft weitere Fakten schafft - den gentechnisch optimierten Menschen.

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Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein