1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Malin Schwertfeger: Leichte Mädchen

15. Februar 2002

Die Geschichte "Leichte Mädchen" ist dem gleichnamigen Buch von Malin Schwerdtfeger entnommen.

https://p.dw.com/p/1Inb
Malin Schwertfeger: Leichte Mädchen. Erzählungen, Kiepenheuer & Witsch Verlag, ISBN: 3-462-02996-7
Die leichten Mädchen kamen auf der Ladefläche eines hellblauen Kleintransporters in unser Dorf. Sie lagen in einem Haufen Kissen, und obwohl ihr Zuhälter vorsichtig durch die Schlaglöcher vor der Molkerei steuerte, wurden sie mächtig durcheinandergeschüttelt. Feuchter Sand, der nach saurer Milch roch, spritzte gegen die Kotflügel. Die leichten Mädchen lachten und schüttelten ihre Haare über den Kissen aus.
Bernie sah sie als erster. Er hatte Frühschicht und wollte gerade mit dem Milchlaster in die Molkereiauffahrt einbiegen, als der Wagen mit den drei Mädchen an ihm vorbeischaukelte. Die Mädchen winkten ihm zu, und Bernie mußte scharf bremsen.

In der Küche pellte meine Schwester Imi an diesem Tag mit roten Händen Tomaten, als jemand am Fenster vorüberging. Imi wunderte sich über den Duft nach Parfüm und Zimtkaugummi, der nicht zu den Gerüchen unserer Küche gehören konnte, und sah von den Tomaten auf, die blasig und aufgeplatzt in einer Schüssel mit heißem Wasser lagen. Sie wartete, und der Duft kam wieder, zusammen mit einem der leichten Mädchen. Imi ließ das Messer sinken.
"Ich bin Ihre neue Nachbarin", sagte das Mädchen am Fenster. Imi wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab und gab dem Mädchen die rechte. "Entschuldigen Sie die Aufdringlichkeit", sagte das leichte Mädchen. "Wir möchten ein paar Sachen an den Wänden anbringen. Haben Sie eine elektrische Bohrmaschine?"
Imi ließ die Tomate, der sie gerade die Haut abzog, zurück in die Schüssel fallen, rannte in die Abstellkammer, nahm den Werkzeugkasten in die eine, den Bohrer in die andere Hand und folgte dem leichten Mädchen hinüber ins Nachbarhaus.

Am nächsten Tag schaute Bernie, der Milchfahrer, wie zufällig bei uns vorbei. Seine Glatzenhaut schien noch dünner zu sein als sonst, und sie glänzte rotseidig in der Sonne.
"Du mußt besser auf deine älteste Tochter aufpassen", sagte er zu unserem Vater. "Sie ist gestern rübergegangen und erst Stunden später wieder herausgekommen. Ich hab`s gesehen!"
"Rüber?" fragte Vater. "Zu den Friseusen?"
Bernie lachte.
"Friseusen sind das keine! `n paar leichte Mädchen sind das, das ist doch klar!"
Vater holte Imi herein. Imi stand unter dem Zwetschgenbaum und sollte eigentlich Zwetschgen pflücken. Sie schaute aber immer wieder zum Nachbarhaus und vergaß das Pflücken, und wenn sie sich wieder daran erinnerte, paßte sie nicht auf und erwischte nur die harten Zwetschgen oder die, die sich halb verfault und von den Hummeln angefressen gerade noch am Baum halten konnten. "Ich habe bloß geholfen, ein paar Nägel einzuhauen, ein paar Schränke anzubringen und ein paar Sachen aufzuhängen", sagte Imi, als sie in die Küche kam. "Kein halbe Stunde hat das gedauert." Mit den Fingerknöcheln wischte sie sich den Schweiß unter den Augen weg.
"Was für Sachen?" fragte Bernie. Er fuhr sich vorsichtig über die Glatze und hielt den Atem an. Aber Imi befriedigte Bernies Neugier ganz und gar nicht mit ihrer Beschreibung der kleinen Glasvitrinen, der Seidenpantöffelchen und messinggefaßten Spiegel, der Pferdeposter, japanischen Fächer und Jadegötzchen, die sie im Haus der leichten Mädchen aufgehängt hatte. Blaß und verkrampft, mit hängendem Kopf und ohne ein höfliches Wort drehte sich Bernie um und ging. Er hinterließ einen klebrigen Abdruck auf der Türklinke, als habe er zuvor in Honig gefaßt.

Es war gut für meine Schwester, daß wir nun neue Nachbarn hatten, denn sie langweilte sich oft. Imi hatte in diesem Sommer keine Arbeit gefunden und war den ganzen Tag zu Hause. In der Molkerei anfangen wollte sie nicht, wegen des Gestanks. Noch nie hatte Imi Milch gemocht. Jeden Nachmittag, wenn die anderen Kinder gleich nach der Schule zu den Milchpfützen liefen,war Imi nach Hause gegangen, duschen. Sie mied die Molkerei wie das Höllenfeuer und haßte sie wie die Pest. Die Molkerei nicht einmal riechen zu müssen blieb allerdings ein Kunststück, das ihr nie gelungen war, obwohl sie sich mit Lufterfrischern und parfümierten Potpourris auskannte wie niemand sonst. Wenn der Wind aus Westen kam, nützte es auch nichts, daß Imi alle Türen und Fenster schloß und Kirsch-Raumduft im ganzen Haus versprühte. Die Milch war überall. An feuchten Tagen, behauptete Imi, könne man sehen, wie die Molke innen an den Wänden herunterliefe. Und in heißen Monaten bilde sich manchmal eine Haut auf dem Baggersee.
Jeden Morgen, wenn Vater und Mutter in die Molkerei gingen, versuchten sie, Imi zum Mitkommen zu überreden. Und jeden Morgen blieb Imi zu Hause. Aber der Milchgeruch, der herüberwehte, erinnerte sie den ganzen Tag über daran, daß die Molkerei da war und auf sie wartete. Und dann gab es ja noch andere Gerüche, von denen Imi von morgens bis abends umgeben war: Die Abflüsse waren verstopft, der Komposthaufen stank, und in der Hitze des Gartens faulten die herabgefallenen Zwetschgen, die Imi jeden Morgen mit einem Spaten von der Terasse kratzen mußte. Ich fuhr jeden Morgen in die Schule, und jeden Mittag, wenn ich zurückkam, konnte ich in den Falten der aufgehängten Wäsche und den Umrissen der Pfützen am Gartenschlauch lesen, was am Tag passiert war: nicht viel.

Doch dann kamen die leichten Mädchen.
"Wie sieht es drüben aus?" fragte ich, als ich mit Imi in der Küche saß und ihr beim Zwetschgenentsteinen half.
"Sie haben noch nicht viele Möbel", sagte Imi. "Die alten Tapeten sind noch drin, aber die Badewanne haben sie rausreißen lassen und einen Whirlpool eingebaut."
Imi hatte einmal in einem Whirlpool gesessen, bei einem Klassenausflug ins Schwimmbad, aber dieser Whirlpool hier war in einem Haus wie unserem, und er war rosa, erzählte Imi. "Die Wasserhähne sind aus Gold", sagte sie, "und die Badematten aus Angora." "Meinst du, sie holen dich nochmal?" fragte ich.
"Vielleicht", sagte Imi.
Unsere Mutter schaute herein.
"Mach deine Schularbeiten!" sagte sie zu mir. "Die Zwetschgen kriegt sie schon allein entsteint."
Bei mir war eben noch nicht alles zu spät.

Am nächsten Vormittag war das Klo der leichten Mädchen verstopft. Wieder kam das Mädchen, das ständig Zimtkaugummi kaute, herüber und klopfte ans Küchenfenster. Sein Haar hatte die Farbe von Sandelholz. Es trug einen Kittel und ein Schwesternhäubchen, Seidenstrümpfe, aber keine Schuhe. Imi hatte einen Riesentopf Zwetschgenmus auf dem Herd, und obwohl das Zwetschgenmus gerade anfing aufzuschäumen, suchte und fand Imi das Abflußfrei und rannte hinter dem leichten Mädchen her, das auf Strümpfen über den Rasen lief und nicht merkte, daß es in schimmlige Zwetschgen trat, die von Bienen umsummt waren. Im Haus der leichten Mädchen roch es nach süßem Schweiß. Die Luft war, laut Imi, "schön absichtlich stickig", und wenn Imi für etwas Verständnis hatte, dann dafür, daß jemand in diesem Dorf nicht lüftete.
Im Wohnzimmer schaukelte das zweite der leichten Mädchen in einer Hängematte. Es sah aus wie eine zu groß geratene Amazonasindianerin, und in seine Unterlippe war ein tellergroßes Stück Balsaholz eingelassen. Es ließ einen Arm aus der Hängematte hängen, und beim Schaukeln kämmte es mit vier Fingern den Flokati.
"Wo ist die dritte?" traute sich Imi zu fragen.
Die Amazonasindianerin zeigte an die Decke.
"Springt Seil", sagte sie undeutlich über das Balsaholz hinweg und lauschte mit Imi auf das regelmäßige Rumsen im ersten Stock.

Imi erzählte mir jeden Abend von den leichten Mädchen. Bald jedoch fing das ganze Dorf an, über sie zu reden, und die Leute redeten ganz anders als Imi.
Imi ging zum Edeka und traf Bernies Frau beim Anstehen an der Kasse.
"Was für ein Gestank!" flüsterte Bernies Frau. "Die müssen den ganzen Tag in Parfum baden! Drei junge Mädchen, dazu ein Zigeuner mit lackierten Fingernägeln, so lang wie Mistgabelzinken, und dann dieser Gestank!"
Imi sagte, daß ihrer Meinung nach ohnehin kein Gestank gegen den der Molkerei ankäme, und was ihre neuen Nachbarinnen im Dorf verbreiteten, sei kein Gestank, sondern ein Duft. Bernies Frau fand, in einem Dorf, das vom Milchfahren, Milchrühren, Milchabfüllen und Milchverpacken lebe, sei der Geruch nach Milch der einzig natürliche und richtige. Außerdem sei es ja nicht der Geruch allein.
"Bernie meint", sagte Bernies Frau, "daß die alle der Prostitution nachgehen, und da regt er sich furchtbar drüber auf."

In der folgenden Nacht weckte Imi mich aufgeregt und zerrte mich ans Fenster. Vor dem Haus unserer neuen Nachbarn waren drei Autos vorgefahren, riesige schwarze Autos mit Chromteilen, die im Mondlicht funkelten. Jedes trug das Kfz-Kennzeichen einer anderen Stadt. Aus jedem Auto stieg ein Mann in einem weiten Trenchcoat, und in jedem Auto saß ein Chauffeur. Nachdem die Türen hinter den Männern zugefallen waren, setzten die Chauffeure die Autos zurück und bogen wieder in die Straße ein, um auf der gegenüberliegenden Seite im Schatten des Kiefernwäldchens zu verschwinden.
"Wie im Märchen!" flüsterte Imi. "Drei Kutschen und drei Königssöhne!"
Die drei Männer gingen durch das Gartentor, von dem Imi selbst das alte "Hier wache ich!"-Schild abgeschraubt hatte, und auf der anderen Straßenseite, zwischen den dünnen geraden Kiefernstämmen, flammten drei Fahrzeuge auf. Die leichten Mädchen hatten die Tür offengelassen. Das ganze Haus war hell erleuchtet, und in jedem Zimmer schien das Licht eine andere Farbe zu haben. Gegenüber im Kiefernwäldchen zog die Zigarettenasche der drei wartenden Chauffeure Glutschweife durch die Dunkelheit. So viel Licht hatte es in unserer Straße mitten in der Nacht noch nie gegeben.
Imi stellte das Fenster auf Kipp und sog den Duft doppelt konzentrierter Ylang-Ylang-Essenz ein, der die Luft zwischen unserem Haus und dem Haus der leichten Mädchen trotz der Nachtkühle flimmern ließ. "Der Whirlpool!" sagte Imi.
Als ich zurück ins Bett kroch, stand Imi noch immer hinter dem Vorhang.

Nicht nur Imi war seit der Ankunft der leichten Mädchen nicht mehr die alte. Allmählich wich den Männern im Dorf das Blut aus dem Gesicht und wanderte woanders hin. In der Molkerei ereigneten sich innerhalb einer Woche drei Arbeitsunfälle: einem Maschinenschlosser wurde in der Tetrapak-Abfüllanlage der rechte Zeigefinger abgequetscht, ein Lehrling verbrühte sich beim Pasteurisieren, und beim Quarkrühren kugelte sich jemand den Arm aus - nicht mitgezählt die Ausrutscher in der Käserei und die Fehlentscheidungen der Lebensmittel-Technologen, die sich auf ihren Geruchssinn nicht mehr verlassen konnten. Auf einer staubigen Zufahrtsstraße zur Molkerei, die hinter unserem Garten und dem Garten der leichten Mädchen entlanglief, kippte ein Milchtransporter um, weil der Fahrer die Wäsche der leichten Mädchen auf der Leine hatte ihm zuwinken sehen. Der Duft der Wäsche, den er hinterher als "wie nasses Heu mit Piña Colada" beschrieb, war durch das heruntergekurbelte Fenster zu ihm in die Fahrerkabine geweht. Hunderte Liter Milch versickerten im Boden, und der Fahrer bekam Schlafstörungen, auf die ihn seine Frau mit keinem Wort ansprechen durfte.
Bernie lief mit rotem Gesicht und entzündeter Glatze herum. Er war der zuverlässigste und gewissenhafteste aller Milchfahrer und mußte deshalb Doppelschichten schieben, zusammen mit unserem Vater, der einfach unsensibel war wie ein Stück Holz. Die Doppelschichten bekamen Bernies hohem Blutdruck nicht. Trotzdem begann er auch noch, mit einer Unterschriftenliste "gegen die Ausübung von Prostitution in einem Wohngebiet" von Tür zu Tür zu rennen. Seine Glatze fing an, sich leicht zu schälen.

Imis Wangen glühten: Nacht für Nacht sah sie Königssöhne aus Kutschen steigen, die sich ins Nachbarhaus ziehen ließen, und erst nach langer Zeit, "wenn die zerwühlten Laken sie wieder ausgespuckt haben", wie Imi es formulierte, von den leichten Mädchen wieder zu ihrem Wagen geleitet wurden.
Tagsüber gab es im Nachbarhaus immer etwas zu tun für Imi, denn die leichten Mädchen waren dann so schläfrig, daß sie keinen Finger rühren konnten. Ihr Zuhälter, der Zigeuner, kam immer nur montags, und außerdem waren die Nägel seiner beiden kleinen Finger so lang - Imi hatte sie gesehen; sie waren spitzgefeilt, und der Zigeuner beklebte sie mit Viertelkarätern oder setzte kleine Pattextupfer darauf, in die er Goldstaub rieseln ließ -, daß er in handwerklichen Dingen keine rechte Hilfe war. So riefen die leichten Mädchen jedesmal Imi, wenn eine Glühbirne durchgebrannt war oder Haare den Whirlpoolabfluß verstopften, wenn der Videorecorder nicht funktionierte oder ein neuer Ansagetext auf den Anrufbeantworter gesprochen werden mußte. Ständig holte Imi Dinge irgendwo heraus- oder herunter: eine Seidenkrawatte aus dem Klo, ein Schnürleibchen von der Deckenlampe, eine Balalaika vom Birnbaum oder einen Mercedes aus dem Straßengraben. Der Mercedes, erzählte mir Imi später, habe die Buchstaben CD auf dem Nummernschild getragen, und das stehe für Corps diplomatique.

Eines Vormittags klingelte Frau Bock an unserer Tür. Imi wunderte sich, denn Frau Bock war die Personalchefin der Molkerei. Eigentlich hatte sie nie Zeit, und sie wohnte nicht einmal im Dorf, sondern am Rand der nächsten größeren Stadt. Außerhalb der Molkerei sah man Frau Bock nur, wenn sie morgens ihren moosgrünen Kombi vor der Molkerei parkte und abends damit wieder nach Hause fuhr. Sie war noch nie zur Weihnachtsfeier im Gemeindehaus gewesen und auch nicht auf dem Schützenfest. Bei Betriebsfesten ging sie immer früher.
Frau Bock klingelte, und Imi machte ihr auf, weil sie dachte, es sei eins der leichten Mädchen, das die Suppe holen käme. Imi hatte nämlich angefangen, für die leichten Mädchen zu kochen. Aber Frau Bock interessierte sich nicht für die Suppe. Sie setzte sich an den Küchentisch und sah zu, wie Imi Petersilie und Liebstöckel hackte.
"Ihr Vater hat uns verraten, daß Sie arbeitslos sind", sagte Frau Bock.
"Arbeit hab ich genug", sagte Imi.
"Aber keinen Job", sagte Frau Bock. "Sie sitzen doch die ganze Zeit hier herum."
"Ich koche hier die ganze Zeit Zwetschgenmus."
"Aber das ist doch nichts", sagte Frau Bock. "Bei uns sind genug Stellen frei."
"Ich gehe nicht in die Molkerei", sagte Imi.
"Sie müssen ja nicht zum Käse oder in die Buttermilch", sagte Frau Bock, "Sie können zum Beispiel zum Fruchtjoghurt oder in die Buchhaltung."
"Stinken tut es überall", sagte Imi. Sie trug das Schneidbrett zum Herd und schabte die zerhackten Kräuter mit dem Messer in die Suppe. "Sieht's denn so schlecht aus?" fragte Imi.
"Um ehrlich zu sein", sagte Frau Bock, "wir haben ein kleines Personalproblem wegen ein paar Ausfällen in letzter Zeit."
Es klingelte wieder. Imi ging öffnen, und diesmal stand das kleinste der leichten Mädchen vor der Tür. Es trug weiße Kniestrümpfe und fragte nach der Suppe. Imi ging zum Herd, nahm den Topf vom Feuer, wickelte ein Handtuch darum und legte ihn dem Mädchen vorsichtig in die Arme. Das Mädchen gab Imi über dem Topf einen Kuß. "Spassiba", flüsterte es. Es duftete nach unreifen Äpfeln. "Das war Russisch", sagte Imi, als die Tür hinter dem leichten Mädchen zugefallen war.
Frau Bock schaute auf ihre gefalteten Hände.
"Ja, dann", sagte sie. "Überlegen Sie's sich noch mal." Sie stand auf.
"Bestimmt nicht", sagte Imi.
"Ihre Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt wird sich fragen, warum Sie zumutbare Arbeit ablehnen", sagte Frau Bock.
"Ich brauche das Geld nicht", sagte Imi.

Den Männern, die noch alle Glieder hatten, fiel es immer schwerer, sich zu konzentrieren. Ständig vergaßen sie irgend etwas. Sie vergaßen sogar den Termin, den Bernie für die Bürgerversammlung im Gemeindehaus angesetzt hatte, Thema: Bekämpfung der Prostitution. Niemand kam, außer Bernie und ein paar älteren Landfrauen. Bernies Glatze sah mittlerweile aus wie mit einer silbrigen Membran überzogen. Stellenweise hatte die Haut feine Risse bekommen, unter denen es rot und blutig pulsierte. Das schlimmste war, daß die hygienischen Zustände in der Molkerei unter der Fahrigkeit der Männer zu leiden begannen. Schmierkäse setzte sich in den Fugen des Fliesenbodens fest, vergessene Kefirbecher explodierten, und die Milch flockte ohnehin aus, noch bevor sie angeliefert wurde: Die Moschusausdünstungen der Milchfahrer machte sie schon auf der Landstraße sauer. Aus der Molkerei stank es wie nie zuvor.
Imi verbrachte ganze Tage in der Badewanne, mit zusammengerollten feuchten Handtüchern vor den Fensterritzen. Vater drohte, sie rauszuschmeißen.
Auch der Geruch, der vom Nachbarhaus ausging, schien stärker zu werden, schärfer und süßer. Es roch ein bißchen nach Ammoniak, als ob dort irgend etwas reifte. Einer, der sich am Rand des Dorfs ein altes Bauernhaus renoviert hatte und aus der Stadt hergezogen war, meinte, es röche wie die schwarzen Trüffel aus dem Périgord. Manchmal kam es mir vor, als hätte sich der Dunstkreis des Nachbarhauses auf unser Haus ausgedehnt. Morgens ging ich mit unserem Geruch in der Nase aus dem Haus, lief am Haus der leichten Mädchen vorbei und merkte, daß der Geruch dort genau derselbe war.

Imi stand weiter jede Nacht am Fenster, berichtete, wen sie sah, wer neu war und wen sie schon kannte, wer jede Nacht kam und wer sich nicht traute. Sie zählte die vorgefahrenen Autos, die Stunden, die jeder Gast bei den leichten Mädchen verbracht hatte, und die Zigaretten der wartenden Chauffeure. Ich blieb bei ihr, bis ich müde wurde und fast im Stehen einschlief. Imi wurde nie müde.
Immer in der Nacht von Sonntag auf Montag kam der Zigeuner. Und jede Woche hatte er ein anderes Auto. Wenn er ausgestiegen war, blieb er am Gartentor stehen und zog eine kleine Feile aus einem Etui, das an einer Goldkette um seinen Hals hing. Dann begann er, seine langen Fingernägel zu feilen. Manchmal hob er zwischendurch den Kopf und grinste in unsere Richtung, und es war schwer zu sagen, ob er uns sehen konnte, oder ob er nur in den dunklen Fensterscheiben sein Spiegelbild betrachtete.

In der Nacht, bevor Imi umgezogen war, war zum ersten Mal ein Mann zu Fuß gekommen, ohne Auto und ohne Chauffeur. Er hatte vorsichtig und etwas ungeschickt das Gartentor aufgeklinkt, war neben dem Kiesweg gegangen, um kein Geräusch zu machen, und hatte dann mit dem Fingerknöchel verstohlen an die geöffnete Tür geklopft. Das größte und stärkste der leichten Mädchen, die Indianerin mit der geweiteten Unterlippe, war zur Tür gekommen und hatte gelächelt. Dann hatte sie Bernie einfach auf ihre unglaublich starken Arme genommen und war mit ihm wie mit einem Säugling an der Brust im Haus verschwunden.

Seit Imi nach nebenan gezogen ist, kann sie baden, so lange sie will. Der rosafarbene Whirlpool hat drei verschiedene Sprudelfunktionen, und jeden Montag bringt der Zigeuner einen neuen Badezusatz aus der Stadt mit. "Viel baden und morgens und abends den Mund mit Shalimar spülen", sagt Imi, "und du riechst die Milch gar nicht mehr." Wenn ich aus der Schule komme, steht Imi am Badezimmerfenster und winkt, und ich freue mich, meine Schwester so glücklich zu sehen.