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“Sie entdeckte die Panzer”

Ralf Bosen31. August 2016

Clare Hollingworth meldete 1939 den deutschen Einmarsch in Polen, berichtete über den Vietnam-Krieg und interviewte den Schah von Persien. Ihr Biograf gibt einen Einblick in das Leben der ersten Kriegsreporterin.

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Clare Hollingworth sitzt im Pilotenhelm im Cockpit eines Düsenjägers.
Clare Hollingworth in einem DüsenjägerBild: unknown/Clare Hollingworth archive

Clare Hollingworth begann ihre journalistische Karriere mit einem Paukenschlag. Am 1. September 1939 meldete sie als Erste den Einmarsch deutscher Truppen in Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Damals war sie 27 Jahre alt. Später berichtete sie über alle großen Konflikte und Kriege der Welt und wurde zu einem Rollenmodell für Journalistinnen. Hollingworth wurde 1911 in Leicester, England, geboren und lebt nun in Hongkong.

Ihr Großneffe, der britische Autor Patrick Garrett, hat ein Buch über ihr außergewönliches Leben geschrieben: "Of Fortunes and War: Clare Hollingworth, first of the female war correspondents."

DW: Herr Garrett, was hat Hollingworth erlebt, als sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Zeitungsreporterin nach Polen entsandt wurde?

Patrick Garrett: Clare hatte den Aufmarsch deutscher Panzer bei einer Erkundungsfahrt im Grenzgebiet wenige Tage vor der Invasion entdeckt. Am Dienstag, dem 29. August 1939, hatte sie ihre erste Titelgeschichte im Daily Telegraph. Die Schlagzeile lautete: '1000 Panzer sind vor der polnischen Grenze aufmarschiert. Zehn Divisionen stehen für einen schnellen Angriff bereit.‘ Und dann am 1. September, dem Tag des Angriffs, wurde sie in Katowice von dem Dröhnen der deutschen Bomber und dem Feuer der Flugabwehrkanonen aus dem Schlaf gerissen. Anfangs dachten die Menschen noch, dass es sich um eine Übung handelte, weil die Lage schon eine ganze Weile angespannt war.

Clare Hollingworth mit Uniformjacke und Rock.
Die Reporterin in ihrer Uniform während des 2. WeltkriegsBild: unknown/Clare Hollingworth archive

Clare informierte ihren Chef in Warschau, der seinerseits im polnischen Außenministerium wegen einer Stellungnahme anrief. Das Ministerium hörte offenbar erstmals von den Medien, dass Polen angegriffen wurde. Zuerst bestritt das Außenministerium, dass etwas im Gange war. Aber dann, in der Mitte des Anrufs, gingen die Luftschutzsirenen in Warschau an und jeder erkannte, was wirklich passierte. Ironischerweise hatte auch Clare Zweifel und sogar einen Fehlalarm befürchtet, weil die Polen so lange an eine Übung glaubten.

War sie sich der historischen Dimension ihrer Berichte bewusst?

Zunächst überlegte sie, ob ihre Zeitung eine Sonderauflage drucken würde. Später gab sie zu - es war ihr vielleicht etwas peinlich - dass ihr die menschliche Dimension, die ganze Tragödie eines Krieges nicht unmittelbar bewusst war. Erst als Großbritannien den Krieg erklärte, realisierte sie die volle Bedeutung der Ereignisse. Jetzt fragte sie sich, ob ihre eigene Wohnung bald nur noch ein Trümmerhaufen sein würde.

Panzer und Motorräder der deutchen Wehrmacht auf einer Landstraße.
Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 rücken Truppen der deutschen Wehrmacht weiter ins Landesinnere vorBild: picture alliance

Während ihrer Korrespondentenzeit ist sie Zeitzeugin unzähliger Kriege und Veränderungen gewesen. Welche Ereignisse haben ihr journalistisches Leben am meisten geprägt?

Am meisten wurde ihr journalistisches Leben von der Invasion Polens geprägt. Darüber hinaus hat sie einen starken Charakter. Sie will immer wissen, was los ist, immer die Erste sein und befürchtet ständig, wichtige Nachrichten zu verpassen. Andauernd fragt sie Menschen nach dem, was sie gehört oder gesehen haben. Das gipfelt in der Neurose, ihr Handy könnte kaputt gehen, weshalb sie es ständig überprüft.

Frühzeitig erkannte sie auch das Konzept des Internets. Bereits in den 1980er-Jahren begeisterten sie die ersten Online-Nachrichtenarchive, die es ihr ermöglichten, von überall her Informationen zu bekommen. Aber Clare konnte die moderne Kommunikationstechnologie nicht mehr im vollen Umfang nutzen. Als sie ihren eigenen Computer bekam, war sie fast blind und kaum in der Lage, vom Bildschirm zu lesen. Wäre sie etwas später geboren, wäre sie auf jeden Fall ein Twitter-Junkie geworden.

Wir erleben gerade wieder ein Zeitalter der Umbrüche, geprägt von internationalen Krisen. Verfolgt Hollingworth diese Entwicklung trotz ihres hohen Alters und wenn ja, wie beurteilt sie diese vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung?

Clare steht kurz vor ihrem 105. Geburtstag, und sie ist jetzt ziemlich gebrechlich. Bereits vor langer Zeit hat sie über viele Entwicklungen geschrieben, die jetzt zunehmend wichtiger werden. Wenn der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump davon spricht, dass die USA auf Distanz zu ihren NATO-Verbündeten gehen könnten, dann ist das ein Thema, das Clare seit den 1960er-Jahren verfolgt. Clare war in Israel, als der Staat gegründet wurde, und im Nahen Osten während des Zweiten Weltkriegs.

Sie berichtete über Terrorismus mit religiösem Hintergrund und wurde dafür von einigen Wissenschaftlern scharf kritisiert. Einige ihrer Einschätzungen haben sich leider als präzise erwiesen. Sie schrieb darüber, wie wirksam einzelne Kämpfer mit einer einfachen Taktik gegen eine Supermacht vorgehen können. Auch das erleben wir im Nahen Osten. Als Korrespondentin in China thematisierte Clare mögliche Spannungen im Südchinesischen Meer und im Pazifischen Ozean, lange bevor diese Konflikte ständig in den täglichen Nachrichten auftauchten.

Clare Hollingworth steht auf einer Straße in Saigon neben einem Kollegen. Beide haben mehrere Fotoapparate umgehängt.
Clare Hollingworth mit einem Kollegen während der Tet-Offensive im Vietnam-KriegBild: CC BY 2.0 Francois Sully

Was ihr heutiges Leben angeht, so liegt ihr viel daran, immer noch ein Teil der Nachrichtenwelt zu sein. Sie besteht darauf, dass ihr Reisepass neben ihrem Kopfkissen liegt und ihre Schuhe am Bett stehen - falls ein Chefredakteur sie anruft und auf Auslandsreise schickt. Natürlich wird das nicht mehr passieren, aber das gibt ihr einen Sinn und erklärt vielleicht auch ihre Langlebigkeit.

Clare Hollingworth gilt als eine Pionierin ihrer Zeit, weil sie in eine Männerdomäne vorstieß. Wie sieht sie ihre Rolle für die Gleichberechtigung der Frauen?

Clare war sicherlich keine Feministin. Eigentlich war sie gegenüber weiblichen Konkurrentinnen ziemlich kratzbürstig. Es gab kaum Hinweise auf weibliche Solidarität bei ihr. Der Grund war, dass sie an gleiche Rechte für alle glaubte. Sie wäre kein Fan von positiver Diskriminierung gewesen. Insofern man Frauen oder auch Männern aufgrund ihres Geschlechts Karriere-Vorteile eingeräumt hätte.

Ob in der Wüste oder im Dschungel Vietnams, immer wollte Clare in der Nähe der Truppen sein. Sie lebte und arbeitete unter den gleichen Bedingungen wie die Soldaten. Sie hatte das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, falls sie Privilegien in Anspruch genommen hätte. Ich glaube, Clare würde sagen, der Beweis, dass eine Frau all das tun kann, was ein Mann kann, sei ihr Beitrag zur Gleichberechtigtung.

Hollingworth und Autor Patrick Garrett sitzen im Gespräch zurückgelehnt auf einer Couch.
Hollingworth und Autor Garrett in Hongkong.Bild: Patrick Garrett