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Sheldon Solomon im Interview

13. September 2016

Mit seinen Kollegen Jeff Greenberg und Tom Pyszczynski entwickelte er die 'Terror Management Theorie': Eine Erklärung für viele unbewusste Verhaltensmuster, wie zum Beispiel die Gier nach mehr.

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Bild: DW

DEUTSCHE WELLE: Mr. Solomon, was genau besagt die “Terror Management Theorie”?

SHELDON SOLOMON: Die 'Terror Management Theorie' ist unser Versuch, die Ideen von Ernest Becker, einem verstorbenen Kulturanthropologen, der in den 1970ern wichtige Bücher geschrieben hat, auf ein paar einfache Annahmen zu reduzieren und sie dadurch im Labor untersuchen zu können.

Im Mittelpunkt von Beckers Arbeit stand die Frage, was das menschliche Verhalten steuert. Entscheidend war der Gedanke, dass wir Menschen einzigartig sind in unserem Bewusstsein, eines Tages sterben zu müssen. Und dieses Wissen erzeugt eine möglicherweise lähmende Angst.

Nebenbei sind wir auch noch mit der Erkenntnis gestraft, dass unser Tod jederzeit eintreten kann - unvorhersehbar und unkontrollierbar. Und schließlich - sozusagen als psychologischer Tritt in die Magengrube - mögen wir auch den Gedanken nicht, dass wir Tiere sind. Aus rein biologischer Sicht sind wir eigentlich bloß „atmende und ausscheidende Fleischstücke“.

Ernest Beckers Theorie besagt nun, dass die Menschen – ziemlich genial, aber nicht unbedingt bewusst – etwas geschaffen und aufrecht erhalten haben, was Anthropologen als Kultur bezeichnen. Mit anderen Worten, die Angst wird kontrolliert durch von Menschen erzeugte Glaubenssysteme, nämlich dass wir in einer sinnvollen Welt leben und wir einen wertvollen Beitrag zu dieser Welt leisten. Wir nennen das „Selbstwertgefühl“.

Plato sagte: “Deshalb wollen wir Kinder haben, deshalb wollen wir Pyramiden bauen, deshalb wollen wir großartige Bücher und Symphonien schreiben. Und deshalb wollen wir viel Geld haben – damit wir mehr als bloß Tiere sind, die zum Sterben verurteilt sind.“

DW: Und wie wirkt sich das auf unser Verhalten aus?

SHELDON SOLOMON: Wenn es um Unsterblichkeit geht, dann gibt es kein Genug. Alles andere in der Welt, jedes natürliche Verlangen, kann gestillt werden: “Ja, ich mag Pizza.“ Aber es gibt einen Punkt, wo ich sage: “Ich hatte genug Pizza.“ Sogar beim Sex erreicht man den Punkt, wo man genug hat und eine Pause benötigt. Aber Menschen sind einzigartig in ihrer Besessenheit, nicht nur übermäßig zu konsumieren, sondern vor allem mehr zu besitzen als andere. Und eine Erklärung, warum Menschen sehr viele Dinge und sehr viel Geld besitzen wollen, ist – das ergeben unsere Forschungen - weil es ihnen, psychologisch betrachtet, das Gefühl gibt, dass sie ewig leben könnten. Und aus diesem Grund ist genug nie genug.

DW: Ist es nicht ein Widerspruch, sich seiner Sterblichkeit bewusst zu sein – und dennoch viele Dinge anzuhäufen?

SHELDON SOLOMON: Wir verbringen unser Leben damit, Geld anzuhäufen für große Häuser und Garagen, um dort möglichst viele Autos und Kleinkram und vor allem die neuesten Elektrogeräte reinzustopfen. Aber Tatsache ist, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, über den hinaus mehr Zeug zu besitzen nicht glücklicher macht. Und einen auch bestimmt nicht länger am Leben erhält. Was wie ein Widerspruch erscheint, ist eigentlich leicht zu erklären: Es ist nämlich so, dass unser Wunsch, nicht zu sterben, sich über unsere Fähigkeit hinwegsetzt, vernünftig zu denken und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es einen Punkt in unserem Leben geben wird, an dem wir nichts mehr brauchen – weil wir ein Nichts sein werden.

DW: Aber Ist das denn ein neues Phänomen? Die Menschen strebten doch immer nach materiellen Dingen und nach Status…

SHELDON SOLOMON: In fast der gesamten Menschheitsgeschichte hatten die meisten Leute nicht allzu viel. Das Leben war kurz; man verbrachte die längste Zeit am Tag damit, Nahrung zu beschaffen. Und weil es keine Technologie für Massenproduktion gab, häuften die meisten Leute auch nicht besonders viel an. Die vorrangige Produktionsweise war Handarbeit. Als Schuhmacher stellte man einen ganzen Schuh her – und wenn man gute Schuhe machte, dann konnte man getrost stolz auf seine Leistung sein.

Und dann kam die industrielle Revolution. Einerseits führte die Massenproduktion dazu, hochwertige Waren zu Preisen herzustellen, die sich viele Menschen leisten konnten. Andererseits hat die Arbeitsteilung das Wesen der Arbeit radikal verändert. Plötzlich stellt man nicht mehr einen ganzen Schuh her; man schlägt nur noch den Absatz darauf. Und das macht man acht Stunden täglich, vierzig Jahre lang. Es ist nicht mehr „dein Schuh“, du bist nicht stolz darauf, den Absatz darauf zu schlagen. Und daher kann man auch keine Selbstachtung mehr erlangen aus dem, was man tut. „Hände sollten mit Anmut bewegt werden“, sagen manche. Vom Menschen als Hersteller zum Menschen als Abnehmer - eine radikale Verschiebung – weg von der Wertschätzung aufgrund eigener Leistung in mühevoller Handarbeit – hin zum Selbstwert aufgrund abstrakter Zahlen auf einem Bankkonto.

Und dann ist da noch die grassierende Unzufriedenheit, die daher rührt, sich einem Wertesystem verschrieben zu haben, in dem jeder nach unendlich viel Besitz strebt, man aber nie einen Punkt erreicht, an dem man endlich zufrieden ist. Mit anderen Worten, die dunkle Seite jedes unstillbaren Verlangens ist eine Art 'galoppierende Inflation', die letztlich außer Kontrolle gerät.

DW: Sie beschreiben einen Wertewandel. Welche Rolle spielt dabei die Religion?

SHELDON SOLOMON: Im Mittelalter war die meistverbreitete Form des Christentums der Katholizismus – und der Katholizismus war sehr eindeutig darin, Habgier und Gier als Sünde einzuordnen. Man war der Ansicht, dass es in Ordnung sei, Dinge für den eigenen Verbrauch oder zum Nutzen der Gesellschaft zu produzieren. Aber obszöne Mengen an Dingen zu besitzen oder andere Menschen auszunutzen durch Anleihen mit hohen Zinsen oder gar Zinswucher - das wurde als Todsünde betrachtet.

Dann kam es zu einer Art Revolution durch den Protestantismus. Und eine der Folgen war, dass die Menschen nun mehr auf sich gestellt waren: Man hatte eine direkte Verbindung zu Gott – was zwar befreiend war, aber auch traumatisierend. Denn woher sollte man wissen, was der Allmächtige mit einem vorhat? Die protestantische Lehrmeinung war die der Vorbestimmung – also dass man auf diese Welt kommt und sein Schicksal quasi schon beschlossen ist. Man wird entweder verdammt und kommt in die Hölle - oder man ist gesegnet und kommt in den Himmel. Aber wie kann man wissen, ob man vom Schicksal für die Unterwelt oder fürs Paradies vorgesehen ist?

Und nun herrscht die Vorstellung, dass ich herausfinden kann, was Gott mit mir vorhat, indem ich in meinem Dasein viel erwerbe. Und wenn ich hart arbeite und dafür viel Zeug kaufen kann, dann ist das ein Zeichen dafür, dass Gott seine Zufriedenheit über mir erstrahlen lässt. Also, es gibt durchaus die Meinung, dass bei dieser westlichen Mentalität, grenzenlos viel Zeug zu haben, auch religiöse Einflüsse eine Rolle spielen.

DW: Aber In westlich orientierten Gesellschaften verlieren die Religionen doch an Bedeutung…

SHELDON SOLOMON: Viele Westeuropäer und Amerikaner haben heutzutage keinen festen Glauben an Gott mehr. Unsere Theorie ist: Man glaubt nicht mehr an Gott - aber an irgendetwas, das einem Zuversicht gibt, muss man ja glauben – Zuversicht, dass man ewig leben könnte. Und zur neuen 'Ideologie der Unsterblichkeit', ist nun, laut Ernest Becker, das Geld geworden. Wir verehren nicht mehr Gott an sich, sondern die Aussicht, dass wenn wir nur genügend viel Zeug haben, wir viel länger leben als alle anderen.

DW: Gibt es nicht auch andere Wege, die unbewusste Angst vor der eigenen Endlichkeit zu verarbeiten?

SHELDON SOLOMON: Es gibt Vorgänge im Gehirn, die automatisch ablaufen, sobald wir an den Tod denken – und die diese Gedanken wieder verdrängen. Soviel wir wissen, äußern sich unbewusste Gedanken an den Tod auf verschiedenste Weise, abhängig von der jeweiligen Person und den vorherrschenden Werten.

Manche Menschen werden patriotischer oder nationalistischer, um mit der Angst vor dem Tod klarzukommen. Andere Leute werden großzügiger – zumindest in Bezug auf Hilfsorganisationen, von denen sie denken, dass sie ihr kulturelles Weltbild teilen. Und wieder andere werden materialistischer und 'erwerbsorientierter' – das heißt: die Angst vor dem Tod verstärkt die schon vorhandene Tendenz, so viel wie möglich zu wollen, und zwar mehr als alle anderen.

DW: Lässt sich diese These im Experiment beweisen?

SHELDON SOLOMON: Für insgesamt materialistische Menschen ist Einkaufen mehr oder weniger die alleinige Grundlage ihres Selbstwertgefühls. Sie kaufen ein, weil sie dadurch einen Sinn im Leben sehen und sich selbst als wertvoll empfinden. Und aufgrund von Experimenten wissen wir heute, dass manches davon mit der Verdrängung des Todes zu tun hat. Zum Beispiel erinnern wir Versuchspersonen in Fragebögen an ihre Sterblichkeit - und sie sollen dann ihre Gefühle aufschreiben, die sie mit dem eigenen Tod verbinden. Manchmal befragen wir auch Leute vor einem Bestattungsinstitut oder wir lassen das Wort 'Tod' so schnell auf einem Computermonitor erscheinen, dass man es gar nicht bewusst sieht.

Aber egal, wie man die Menschen daran erinnert, dass sie eines Tages sterben werden – was wir durchgehend feststellen können, ist, dass die Leute mehr Zeug haben wollen. Und sie wollen bessere Sachen. Sie wollen Dinge wie Rolex-Uhren und Lexus-Autos. Sie wollen mehr Geld – Geld sieht unter diesen Bedingungen für sie sogar physisch größer aus. Und sie werden gieriger. Wir glauben also, dass diesem 'Drang zu kaufen' manchmal ein erwerbssüchtiges Motiv zu Grunde liegt, das teilweise Ausdruck der Todesleugnung ist.

DW: Was konnten Sie noch beobachten, wenn Probanden an ihre Sterblichkeit erinnert wurden?

SHELDON SOLOMON: Wenn unsere eigenen Vorstellungen über die Wirklichkeit dabei helfen, die Angst vor dem Tod zu verringern, dann sind uns zum Beispiel Menschen mit einer anderen Überzeugung unangenehm. Wenn ich also ein guter Amerikaner bin und ein guter Christ und glaube, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat und sich danach ausruhte… Nun, wenn ich dann auf jemanden aus Borneo im Südpazifik treffe, der sagt: “Nein, jeder weiß doch, dass die Welt aus einer riesigen Kokosnuss entstanden ist...“ , Na, wenn der recht hat, dann habe ich unrecht!

Wir haben diese Glaubenssysteme, die die Angst vor dem Tod verringern, aber, wie Ernest Becker sagte: “Da wird immer eine gewisse Panik unter der Oberfläche des Bewusstseins rumoren. Also nehmen wir diese Todesangst - und wir müssen etwas damit anfangen.“

Und eine Sache, die wir machen können, ist eine Menge Mist zu kaufen. Was wir aber auch tun können, ist, die Todesangst zu nehmen und sie anderen Leuten anzuheften, entweder inner- oder außerhalb unserer eigenen Kultur – und einfach zu sagen “Oh, da ist der Hort des Bösen.“

Das waren einst die Kommunisten. Und jetzt sind es islamistische Terroristen. Hierzulande haben wir früher die Hippies gehasst – aber jetzt sind sie ganz okay, weil Jeans 200 Dollar kosten und die Hippies Hedge-Fonds-Manager sind. Dann hassen wir jetzt eben Homosexuelle, oder? Ach, die sind nun auch in Ordnung, also hassen wir jetzt alte Menschen oder wir hassen Menschen, die kein Englisch sprechen und so weiter... Also, was machen wir mit diesen Leuten? Wir machen sie schlecht - oder wir versuchen sie zu überzeugen, dass unsere Art zu leben die bessere ist. Oder – wenn das nicht funktioniert – töten wir sie einfach.

Aus Sicht der Terror Management Theorie ist Krieg die unvermeidliche Folge der Unfähigkeit, Menschen anderen Glaubens zu tolerieren.

DW: Ist der Mensch grundsätzlich egozentrisch oder doch eher ein soziales Wesen?

SHELDON SOLOMON: Wir haben ein wenig von beidem. Ernest Becker sagte: “Wisst ihr, wir wollen beides - mal so, mal so.“ Manchmal wollen wir als Einzelne herausragen, die Besten sein und besser als alle anderen. Ein andermal wollen wir einfach nur dazugehören. Ich möchte ein guter Amerikaner sein, ein guter Deutscher, ein guter Argentinier – ich will einfach nur Teil einer Familie sein oder ein Teil der Stadt, in der ich lebe.

Wir haben in unseren Studien gezeigt, dass man Menschen in die eine oder in die andere Richtung lenken kann. Vieles unserer Arbeit hat mit der Frage zu tun: „Was passiert, wenn man Menschen daran erinnert, dass sie eines Tages sterben werden?“ Und wenn wir das tun und den Leuten danach sagen “Ha! Du bist wie jeder andere!“ – dann wollen sie einzigartig sein. Sie wollen herausragen. Aber wenn wir den Leuten sagen “Oh, wow, du bist wirklich einzigartig!“ – dann wollen sie lieber wie jeder andere sein.

Und dieses Verhaltensmuster, dass wir herausragen und gleichzeitig dazugehören wollen, ist auch in Bezug auf Konsum deutlich zu beobachten: “Ja, ich will einen Porsche haben, weil ich herausstechen will!“ Und “Ja, ich will nicht auf einem Kamel die Straße entlang reiten, obwohl das in New York vielleicht sogar teurer wäre als ein Porsche - aber ich will nicht allzu sehr herausstechen!“

DW: Aber fördert unsere Gesellschaft denn nicht geradezu die Gier?

SHELDON SOLOMON: Es gibt Studien darüber, dass Menschen dazu neigen, Umstände und auch andere Organismen zum eigenen Vorteil auszunutzen. Ich glaube also, es wäre lächerlich vorzuschlagen, dass wir alle zu Gandhi werden könnten - geklont mit Mutter Theresa oder Jesus. Das wird einfach nicht passieren - und ist vielleicht auch gar nicht wünschenswert.

Gier ist ein kompliziertes Gemisch aus Motiven, das, wenn es vernünftig eingesetzt wird, gut für uns ist. Es wäre naiv und verkehrt zu leugnen, dass dieser Drang nach Erfolg, dieser Impuls, der Beste zu sein, von jeher ein psychologischer Motor für Kreativität, Erfindungen und Entdeckungen war. Und ich persönlich mag die Idee vom Fortschritt und denke daher, ein klein wenig Gier ist eine gute Sache. Aber ich finde, die Konservativen liegen falsch, wenn sie sagen: “Gier ist gut – und jede Bestrebung, sie zu mäßigen oder in eine andere Richtungen zu lenken, ist unmöglich und unklug.“

Nietzsche stellte in 'Die fröhliche Wissenschaft' einst fest, dass das Bewusstsein die katastrophalste Dummheit sei, aufgrund derer die Menschheit eines Tages zugrunde gehen werde. Nietzsche war der Ansicht, dass wir vielleicht wirklich nur 'vorübergehende Wesen' sind, die dem Untergang geweiht sind – und zwar, weil das gleiche Verhalten, das auf kurze Sicht so vorteilhaft war, sich letztendlich als ungemein problematisch und am Ende sogar katastrophal erweisen könnte.

DW: Aber gibt es denn einen Ausweg aus dem Dilemma der menschlichen Befindlichkeit?

SHELDON SOLOMON: Ich glaube, wir sind grundsätzlich soziale Wesen. Und aus empirischen Studien weiß ich, dass wenn wir von Mitgliedern einer Gemeinschaft umgeben sind, in der Werte wie Zusammenarbeit und gegenseitige Wechselwirkung mit unseren Mitmenschen betont werden, anstatt den Einzelnen danach zu beurteilen, welch unendliche Mengen an Zeug er sich anschafft - dann kann man die Menschen auf sehr positive Art verändern.

Irgendwie müssen die Leute davon überzeugt werden, dass nicht alles, aber manches, was sie tun, aus Gründen geschieht, von denen sie nichts wissen - und zwar, dass sie den Tod verdrängen. Und dass sie bessere Methoden finden müssen, mit dieser Todesangst umzugehen. Ich glaube nicht, dass die Angst jemals ganz verschwinden wird. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie das überhaupt sollte. Denn wenn wir uns der Tatsache qualvoll und eindringlich bewusst sind, eines Tages zu sterben, dann adelt uns das im besten Fall und bringt auch das Beste in uns hervor.

Und deshalb glaube ich nicht, dass die Frage ist, ob wir Menschen uns jemals bis zu einem Punkt weiterentwickeln, wo wir uns nicht mehr vor dem Tod bangen. Das wäre dumm. Ich denke, ein Teil dieser Angst vor dem Tod hat damit zu tun, dass wir das Leben lieben. Und daher lautet die Frage eher: “Können wir es besser machen?“- als uns daran zu messen, wie viele Zimmer unser Haus hat oder wie viele Porsches in unserer Garage stehen.

DW: Was müsste sich ändern?

SHELDON SOLOMON:Es gibt eine lange Geschichte der Religion und Philosophie, in der die Menschheit dazu ermutigt wurde, erwachsen zu werden. Wenn wir als Einzelne und als Gemeinschaft mit Würde und Demut akzeptieren könnten, dass wir sterbliche Wesen sind, dann sollten wir das tun - auch wenn wir nicht im Voraus sagen können, wie das die Welt um uns herum beeinflusst. Ich denke, das wäre ein Ansatz - und wir sollten uns in diese Richtung bewegen.

Der andere Ansatz ist ein kultureller und ein wirtschaftlicher: Ein kulturelles Weltbild, das auf der Annahme gründet, grenzenloser Konsum sei möglich, ja sogar wünschenswert – das sollte so gesehen werden, wie es ist: nämlich hochproblematisch, wenn nicht sogar völlig selbstzerstörerisch.

Unsere Kulturen entwickeln sich weiter, und sie bewegen sich in verschiedene Richtungen. Wir müssen sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch zwischen den verschiedenen Kulturen Denkweisen fördern, die den Konsum ein wenig drosseln. Wir führen Diskussionen auf sehr hohem Niveau darüber, was wir wertschätzen – und nun ist die Frage, wie wir das in unsere Wirtschaft übertragen, wie wir unser Eigeninteresse unter einen Hut bringen mit der Neigung, für andere zu sorgen – und zwar so, dass wir als Einzelne motiviert bleiben, ohne vor lauter Materialismus durchzudrehen.

DW: Und wie können wir das unseren Kindern vermitteln?

SHELDON SOLOMON: Ich glaube, die wichtigste Lektion für Kinder ist – so abgegriffen das auch klingt – respektvoll, bescheiden und mitfühlend zu sein; eigene Interessen zu entwickeln und zu verfolgen und gleichzeitig zu lernen, wie man jegliche gezielte Beeinflussung, ob politischer, religiöser oder wirtschaftlicher Art, erkennt und zurückweist.

DW: Und was sagen Sie denen, die die Hoffnung aufgegeben haben?

SHELDON SOLOMON: Leuten, die niedergeschlagen, entmutigt und desillusioniert sind, weil sie sich mit der nackten Realität des Menschseins befasst haben – ich würde versuchen, sie zu trösten, indem ich ihnen erkläre, dass ihre Verzweiflung und ihr Unbehagen echt ist und nicht durch Drogen, Alkohol, Shopping oder Fernsehen unterdrückt werden sollte.

Ich meine, neben der Freude und Ausgelassenheit, die mit der vollen Wertschätzung des Lebens einhergeht, sollten wir auch akzeptieren, dass Tragik unvermeidlich ist: von Zeit zu Zeit wird uns auch Leid widerfahren. Ich schätze, mein persönliches Rezept ist, zu akzeptieren, dass das Leben auch schwierige Seiten hat - und trotzdem demütig und dankbar zu sein für das höchste Privileg, nämlich überhaupt hier gewesen sein zu dürfen. Keiner von uns hat entschieden, geboren zu werden. Ein klein wenig DNA, ein bisschen anders angeordnet – und wir wären Bohnen oder Schimpansen oder Topfpflanzen. Und ich persönlich bin zutiefst dankbar, dass ich meine Zeit und meine Aufgabe bekommen habe. Man muss den Staffelstab des Lebens weitertragen, und ich mache das lieber als Mensch - und nicht als Eidechse oder Kartoffel.