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Berlinale-Retrospektive: Weimarer Kino

Jochen Kürten
16. Februar 2018

Filme über Krieg und Alltag: Das Weimarer Kino überzeugte durch Vielfalt - auch abseits von bekannten Meisterwerken wie "Metropolis" und "M". Ein Blick zurück und ein Gespräch mit Retrospektive-Kurator Rainer Rother.

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Berlinale, Heimkehr | Homecoming - Retrospektive 2018
Bild: Deutsche Kinemathek

Die Zeit der Weimarer Republik (1918 - 1933) gilt in vielen kulturellen Sparten als Blütezeit deutscher Kultur. Das trifft vor allem auch auf das Kino zu. Zahlreiche Werke, die in diesen Jahren in den deutschen Studios entstanden, zählt man bis heute zum Kanon der Kinohistorie. Doch auch abseits dieser bekannten Meisterwerke gibt es Filme, die das Wiedersehen lohnen. Einige davon präsentiert in diesem Jahr die Berlinale innerhalb ihrer Retrospektive "Weimarer Kino - neu gesehen". Rainer Rother, Chef der Stiftung Deutsche Kinemathek und Co-Kurator der Retrospektive im DW-Interview, gewährt Einblicke.

Deutschen Welle: "Weimar - neu gesehen" heißt die Retrospektive 2018 - was wird denn hier neu gesehen?

Rainer Rother: Das hat zwei Aspekte. Einerseits sind es nicht gänzlich unbekannte Filme, die wir aber in neuen Restaurierungen vorstellen. Wir sind sehr froh, dass uns da viele deutsche Filmarchive geholfen haben. Neu gesehen heißt aber auch, dass wir einen Blick auf die Filme jenseits des Kanons werfen, denn die Vielfalt des Weimarer Kinos erschöpft sich nicht in den zwei bis drei Handvoll Werke, die in allen Filmgeschichten genannt werden.

Was haben sie abseits der ausgetretenen Pfade zu Tage gefördert?

Wir haben sehr Schönes zu Tage gefördert. Das reicht von einem Film von Gerhard Lamprecht, "Der Katzensteg", der ein vollkommen unheroischer Preußen-Film ist, angesiedelt in der Periode der Befreiungskriege. Da sind sehr interessante Komödien, in denen die Geschlechterverhältnisse in einer sehr modernen Art und Weise definiert werden: Da ist von Hermann Kostlitz "Die Abenteuer einer schönen Frau" dabei, von Joe May "Tragödie der Liebe", und von Reinhold Schünzel "Der Himmel auf Erden".

Berlinale, Der Katzensteg | Regina, or the Sins of the Father
"Der Katzensteg" von Gerhard LamprechtBild: W.Limot/Lichtenstein/R.Krabe

Wir zeigen auch die Internationalität dieses Kinos. Einerseits durch Mario Bonnards "Der Kampf ums Matterhorn" - ein italienischer Regisseur, der im deutschen Genre des Bergfilms arbeitete. Und andererseits Richard Eichberg, der nach Großbritannien ging und dort mit seiner Produktionsfirma deutsche und englische Film-Versionen produzierte. Auch das ist ein Aspekt der Internationalität: Deutsche Regisseure arbeiten im Weimarer Kino - sozusagen im Ausland. Franz Ostens "Die Leuchte Asiens" ist ein anderes Beispiel für einen Film, der die Exotik nicht im Studio gesucht hat, sondern nach Indien ging und dort eine ganz indische Geschichte mit indischen Darstellern erzählt hat.

Drei große Themenblöcke präsentieren Sie: Exotik - Alltag - Geschichte. Über die Exotik haben Sie gerade gesprochen, wie fiel der Blick auf den Alltag aus?

Es gibt dokumentarische Blicke in Filmen von Ella Bergmann-Michel ("Wo wohnen alte Leute?"/"Fischfang an der Rhön"), die in Frankfurt lebte und dort auch gearbeitet hat. Das sind rein dokumentarische Formen, die den Alltag, aber auch die Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens, eingefangen haben. Dann gab es aber auch Spielfilme, die sehr genaue Blicke auf die Realität der Weimarer Republik geworfen haben. Das konnte ein Film sein wie der von Richard Oswald, "Frühlingserwachen", basierend auf Frank Wedekinds Stück, in dem die Nöte heranwachsender Jugendlicher geschildert werden. Oder "Die Unehelichen" von Gerhard Lamprecht, ein Film, der die Unterschiede zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten sehr deutlich zeigt - mit Bildern, die in Erinnerung bleiben. Das sind Beispiele für einen relativ ungeschminkten Blick, selbst in der Fiktion, auf die Wirklichkeit der Weimarer Republik.

Rainer Rother
Rainer RotherBild: picture-alliance/dpa

Und wie fiel der historische Blick aus?

Da gibt es auch sehr unterschiedliche Filme, z.B. von Franz Seitz, "Favorit der Könige", ein Film, der im England des 16. Jahrhunderts spielt, der in Geiselgasteig in München produziert wurde und gegenüber den berühmten Titeln der Babelsberger Studios überhaupt nicht zurückstehen muss - sowohl was die Bauten angeht als auch die Kameraarbeit von Franz Planer.

Dann gibt es auch einen Film über den 1. Weltkrieg, "Die andere Seite": Interessanterweise spiegelte Regisseur Heinz Paul hier deutsche Erfahrungen in einer englischen Erfahrung, weil er auf das Theaterstück eines britischen Autors zurückgreift, eine Erzählung von Rückkehr und Traumata. Wir können auch an "Heimkehr" von Joe May denken (unser Bild oben), ein Film zum Thema Kriegsgefangenschaft und was das bedeutet für diejenigen, die zurückkehren, aber auch für die Frau, die darauf wartet, dass jemand zurückkehrt.

Wie sieht es mit Filmen aus, die möglicherweise schon vorausblickten auf die Zeit nach 1933?

Für uns war es sehr wichtig, dass wir von dieser Zuordnung "Von Caligari zu Hitler" wegkommen und fragen: In welchem Kontext stehen denn diese Filme tatsächlich in dieser Zeit? Und da sind diese Filme durchaus nicht nur skeptisch.

Buchcover "Weimarer Kino - Neu gesehen"
Retrospektive nachlesen: Publikation, erschienen bei "Bertz + Fischer"

Ist es nicht auch so, dass die Qualität des Kinos der Weimarer Republik darin bestand, dass die Bandbreite so unglaublich vielfältig war?

Ja, dem würde ich sofort zustimmen. Es wurden ja ca. 100 Filme pro Jahr produziert. Und ein bisschen könnte man sagen, sozusagen aus der Industrie-Sicht gesprochen: Da war für jeden etwas dabei. Das heißt auch: Jede Facette des thematischen Ausdrucks ist möglich, jedes Genre wird bedient! Das kann manchmal ganz banal sein. Aber wie wir jetzt mit unserer Auswahl zeigen, ist es in vielen Fällen gar nicht banal, sondern von einer großen Vitalität und einem großen Reichtum. Wir haben für die Retrospektive (nachzulesen in der Publikation zur Berlinale-Schau, Anmerk. d. Red.) sieben Regisseur*innen gebeten, sich diesem Kino noch einmal zu stellen. Die Reaktionen sind enthusiastisch, dass die Entdeckung dieser Vielfalt auch heute noch möglich ist. Das sind Texte von Dietrich Brüggemann, Philipp Stölzl, Wim Wenders, Ulrike Oettinger, Jutta Brückner, Thomas Tode und Andres Veiel, also eine sehr reiche Auswahl…

Das Kino der Weimarer Republik steht ja auch für deutsche Kultur mit internationaler Ausstrahlung - wie ist diese bis heute anhaltende Faszination im Ausland eigentlich heute noch zu erklären?

Es waren zwei Dinge, die so faszinierend waren. Einmal die stilistische Vielfalt, die vom Expressionismus über die Neue Sachlichkeit, über den Proletarischen Film bis zum Experimentellen Film reichte. Und dann war es die sehr spezifische Filmsprache, die sehr stark auch von den Bauten, von der Kamera und auch von der Zusammenarbeit der verschiedenen Film-Gewerke inspiriert war. Und das war eben nicht nur bei der UFA, sondern bei vielen anderen Produktionsfirmen zu spüren. Das gibt diesen Filmen eine ganz eigene bestimmte Atmosphäre - vor allem auch vom Licht her.

Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer (Hg.): Weimarer Kino - neu gesehen, Bertz + Fischer Verlag, 252 Seiten, 225 Fotos, ISBN  978-3-86505-256-8.

Das Gespräch führte Jochen Kürten