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Gesellschaft

Aus Ali wird Alia wird Lilith

Esther Felden
7. August 2018

Noch ist es ein Leben im Dazwischen. Aber das soll bald vorbei sein. In ein paar Monaten will Lilith ganz Frau sein, auch körperlich. Den Schlusspunkt setzen unter einen weiten Weg – der als Junge in Pakistan begann.

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Lilith Raza mit Mikrofon in der Hand auf einer Bühne
Bild: privat

Eigentlich ist es ganz einfach, sagt Lilith. Ein Fehler im Bauplan gewissermaßen. "Die Natur hat versucht, einen Mann zu schaffen. Da, wo eigentlich schon immer eine Frau war." Sie sitzt auf ihrer Couch und schaut auf die alten Fotos. Passbilder, aufgenommen in ihrer südasiatischen Heimat Pakistan. Ein Teenager blickt starr in die Kamera. Dann, ein junger Mann, Anfang 20, ebenfalls mit ernster Miene.

Er sieht unglücklich aus, findet Lilith. Und das war er ja auch. Gefangen im falschen Körper, im falschen Leben. "Es macht mich heute aber nicht mehr traurig, wenn ich den Jungen auf den Fotos sehe. Ich kann meine Vergangenheit nicht ändern, und ich glaube, es ist wichtig, sie einfach so zu akzeptieren. Sonst käme ich mit mir selbst nicht klar."

Leben in Gefahr

Lange hat Lilith mit diesem Fehler in ihrem Bauplan gelebt. Ohne sich zu outen. Pakistan ist ein sehr konservatives, patriarchalisch geprägtes Land. Die Mehrheit der Bevölkerung ist muslimisch, teilweise tief religiös. Themen wie Sex und Homosexualität sind weitgehend tabu.  Darüber, dass dort seit März erstmal eine Trans-Frau als Fernsehmoderatorin arbeitet, wurde weltweit berichtet. Allerdings ist das nicht mehr als ein Einzelfall. Die Mehrheit der Trans-Menschen führt ein Leben am Rande der Gesellschaft, Betroffene finden kaum einen Job – außer als Tänzer bei Hochzeiten. Und viele werden selbst von ihren eigenen Familien verstoßen, wenn diese um ihre Trans-Identität wissen.

Marvia Malik, pakistanische Transgender-Moderatorin
Marvia Malik ist die erste Trans-Frau in Pakistan, die als TV-Moderatorin arbeitetBild: DW/S. Meer Baloch

Auch Lilith schwieg lange. Aus Angst, Schande über die Familie zu bringen. Und aus Sorge um die eigene Gesundheit. Denn auch Gewalt gegenüber Trans-Menschen ist in Pakistan nichts Ungewöhnliches: das geht über verbale Beleidigungen und Schläge bis hin zu Vergewaltigung und sogar Mord. Allein im Jahr 2018 wurden nach Angaben von Human Rights Watch vier Trans-Frauen in Pakistan getötet. In den vergangenen drei Jahren waren es insgesamt fast 60.

Lilith selbst wurde nie bedroht, sagt sie – trotzdem wollte sie weg. Sie hatte das Bedürfnis, ihre Sexualität endlich offen auszuleben. Und die Hoffnung, dass sie das in Deutschland könnte. Sie schrieb sich an der Uni Köln für ein Masterstudium in Umweltwissenschaften ein, kam im Oktober 2012 mit einem Studentenvisum her. Und dank der Unterstützung ihrer Mutter. "Sie hat mir 8000 Euro Starthilfe gegeben und extra ein kleines Stück Land verkauft, damit ich meinen Traum finanzieren konnte." Lilith ist ihr dafür bis heute dankbar. Überhaupt – ihre Mutter ist die zentrale Person in ihrem Leben. Aber dazu später mehr.

Ali Raza mit Kopfbedeckung von der Seite
Aus der Zeit als Mann gibt es keine Fotos, auf denen Lilith lächeltBild: privat

Aus Ali wird Alia wird Lilith

Lilith trägt ein langes schulterfreies Kleid, baumelnde Ohrringe, Makeup und Frisur sitzen. Ihre Gestik ist betont weiblich, und sie ist merklich stolz auf ihr Aussehen. Auf die optische Veränderung, die sie in den vergangenen zwei Jahren dank der Hormontabletten durchgemacht hat. Seit sie täglich Östrogene und Testosteronblocker einnimmt, sind ihre Züge viel weicher geworden, der Körper runder. "Nur gegen den Bartwuchs kämpfe ich immer noch an, das ist nicht so leicht", sagt sie und zuckt resigniert die Schultern. "Am Kinn und an der Oberlippe habe ich immer noch ein paar Haare, die sind hartnäckig."

Abgesehen davon ist sie mit ihrem Äußeren mittlerweile im Reinen. Sie sieht gern in den Spiegel. "Ich sehe schon aus wie meine Mutter." Das stimmt. Sie zeigt ein Foto, die Ähnlichkeit ist deutlich zu sehen. Dann lacht sie.

Auch ihren pakistanischen Pass zeigt sie. Darauf steht noch ihr ursprünglicher Name, Ali Raza. Aber auf ihrer deutschen Krankenkassenkarte heißt sie schon Lilith, auch bei der Bank und bei der Meldebehörde wird sie unter diesem Namen und als Frau geführt. Eine Zeitlang nannte sie sich auch Alia, die weibliche Form von Ali. Aber irgendwann reichte ihr das nicht mehr. "Ich wollte etwas Neues, etwas, was einen Bezug zu meiner Persönlichkeit hat."

Lilith Raza, einmal als Mann, einmal als Frau
Zwei Leben: Das Bild links stammt aus einer Zeit, als Lilith bereits mit der Einnahme ihrer weiblichen Hormone begonnen hatteBild: privat

Für den Namen Lilith hat sie sich ganz bewusst entschieden. "Lilith soll noch vor Eva die erste von Gott erschaffene Frau Adams gewesen sein. Es heißt, dass sie sich ihm nicht unterwerfen wollte." In der Bibel und im Talmud wird der Name erwähnt. Im historischen deutschen Vornamenbuch – das nach Aussage des Zentrums für Namensforschung als maßgeblich gilt – steht darüber, dass es sich um eine "babylonisch-hebräische Sturm- und Nachtdämonin" gehandelt hat. "Für mich war Lilith die erste Feministin der Welt. Sie war stark und hat sich für Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt. Deshalb gefiel mir der Name."

Warten auf den letzten Schritt

Lilith ist fast am Ziel. Nur auf die Geschlechtsangleichung in der Uniklinik Essen wartet sie noch. Die Klärung mit der Krankenkasse zieht sich hin. Wenn die nötigen Nachweise vorliegen, sind in Deutschland die Krankenkassen verpflichtet, bei der Diagnose Transsexualität die Kosten für geschlechtsangleichende Maßnahmen zu übernehmen. Darunter fallen neben den Operationen auch Hormonbehandlungen oder Bart-Epilation. Der operative Eingriff findet dann meist in zwei Schritten statt, dazwischen liegen mehrere Monate.

Lilith über ihre Einstellung zum Leben

In diesem Jahr wird es wohl für Lilith nichts mehr werden damit. Das Warten beschreibt sie als psychisch belastend. Genau wie das Gefühl, dass da etwas ist, was eigentlich nicht zu ihr gehört. "Jedes Mal, wenn ich meinen Penis sehe, empfinde ich das als ekelhaft und schrecklich. Ich sage mir dann selbst, dass ich Geduld haben muss, dass meine Zeit bald kommt. Dass ich 2019 operiert werde und das Ding dann weg ist. Das hilft."

Sie sagt, sie zählt die Tage bis zur Operation. Auch wenn es noch gar keinen konrekten Termin gibt. Trotzdem hat sie auch Angst. Einerseits vor der Zeit im Krankenhaus. Und dann ist da noch etwas anderes, was sie beschäftig. "Ich möchte, dass alles danach so natürlich wie möglich aussieht. Ich habe Angst davor, wenn ich mich nach der OP zum ersten Mal sehe und es nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe. Und ich fürchte mich davor, dass ich vielleicht keinen Orgasmus mehr erleben kann." Diese Sorge trägt sie zurzeit immer mit sich herum, sagt sie. "Es gibt auch einige Trans-Frauen, die sich aus genau diesem Grund nicht operieren lassen." Das allerdings ist für sie keine Option.

Neues Land, neues Leben

Viel ist passiert, seit sie in Deutschland ist. Im Sommer 2017 hat sie ihren Master in Umweltwissenschaften abgeschlossen und mittlerweile auch beim Lesben- und Schwulenverband Deutschlands einen Job gefunden, der ihr Spaß macht. Seit November arbeitet sie für ein bundesweites Projekt, das von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung unterstützt wird: Queer Refugees Deutschland richtet sich an lesbische, schwule, bi-, trans- oder intersexuelle (LSBTI) Flüchtlinge.

Lilith Raza trägt Lippenstift auf
Schminken ist für Lilith ein tägliches RitualBild: DW/E. Felden

Das Projekt ist erst einmal auf ein Jahr begrenzt, es läuft im Dezember 2018 aus. Lilith hofft, dass es danach verlängert wird. Denn auch ihr eigener Aufenthaltstitel ist daran geknüpft. So steht es in ihrer von der der Stadt Köln ausgestellten Aufenthaltserlaubnis. Dort wird sie als "Ausnahmefall" geführt. Im Moment heißt es dort noch, dass sie bis zum 31. Dezember 2018 für das Projekt arbeiten darf. Was danach kommt? Sie weiß es nicht. 

Andere stärken

Viel wichtiger ist die Arbeit mit den Geflüchteten, die sie jetzt betreut. Menschen, die teilweise Ähnliches erlebt haben wie sie. Die ebenfalls aus Ländern kommen, in denen sie ihre Sexualität nicht frei leben können. Und die oft auf der Flucht oder auch in den Unterkünften hier in Deutschland mit Diskriminierung und auch körperlicher Gewalt zu kämpfen haben.

Ihnen versucht Lilith zu helfen, sie hört zu und berät. Mehr als 125 Geschichten hat sie mittlerweile gesammelt, jede ein bisschen anders. Eins aber zieht sich wie ein roter Faden durch, sagt sie. "Viele tun sich sehr schwer damit, offen zu sprechen. Man muss sich das mal vorstellen: Man kommt aus einem Land, in dem das Thema LSBTI ein absolutes Tabu ist. Und dann soll sich eine Person, die sich ihr Leben lang versteckt hat, plötzlich kurz nach der Ankunft in einem fremden Land outen? Das kostet viel Überwindung."

Lilith Raza mit Leopardenkleid bei einer Straßenveranstaltung
Seit sie offen als Frau lebt, blüht Lilith aufBild: privat

Erinnerung an die eigene Vergangenheit

Sie kennt das selbst, dieses Leben mit dem großen Geheimnis. Als sie vor knapp sechs Jahren nach Deutschland kam, da hieß sie noch Ali. Zu dieser Zeit wusste niemand, dass sie eigentlich nicht Ali sein konnte. Nicht einmal ihre Mutter und ihre Schwester, die beiden engsten Menschen in ihrem Leben. "Ich hatte solche Angst, mich ihnen gegenüber zu öffnen. Ich wollte meine Familie auf keinen Fall verlieren."

Als Kind hatte sie schon einmal versucht, ihrer Mutter zu sagen, dass sie eigentlich ein Mädchen war. Doch die nahm die Aussage damals noch nicht ernst, hielt das Ganze für eine Phase. "Ich wusste aber schon immer, dass das keine Phase ist", sagt Lilith energisch und schüttelt den Kopf. 2015 schließlich fasst sie sich ein Herz und vertraut sich ihrer Mutter an. "Ich hatte solches Glück. Meine Mutter und meine Schwester haben gesagt: Das ist okay für uns. Wir akzeptieren dich, wie du bist."

Wiedersehen in der Türkei?

Dass diese Reaktion keine Selbstverständlichkeit ist, weiß sie. Denn auch in ihrer eigenen Familie reagierten nicht alle mit Verständnis. Bis heute lebt sie in Angst vor einem Onkel, der ihre Trans-Identität als Schande empfindet und offen gegen die Familie wettert. Seit 2015 hat sie Mutter und Schwester nicht mehr gesehen – weil sie sich nicht traut, nach Pakistan zu fliegen. Sie hat Angst, dass sie im Gefängnis landen könnte.

Alia über die Reaktion ihrer Mutter auf den Sohn, der keiner sein konnte

Denn in ihrem Heimatland gilt ein umstrittenes Blasphemie-Gesetz, wonach auf Beleidigung des Propheten Mohammed und Schändung des Koran schwere Strafen verhängt werden. Kritiker bemängeln, das Gesetz werde oft dazu missbraucht, Personen aus dem Umfeld bei den Behörden anzuschwärzen. Genau das fürchtet auch Lilith. "Ich bin mir sicher, dass er mich sofort anzeigen würde, wenn ich pakistanischen Boden betrete. Solange ich im Ausland bin, kann er nichts ausrichten, aber sobald ich einreise, gelten ja die dortigen Gesetze."

Noch hat sie einen pakistanischen Pass. Sobald sie lange genug in Deutschland lebt und alle Voraussetzungen erfüllt, möchte sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Für das kommende Jahr plant sie außerdem ein Wiedersehen mit Mutter und Schwester –auf neutralem Boden, in der Türkei. "Dort ist es für uns alle einfach, ein Visum zu bekommen." Liliths Stimme klingt auf einmal rau, sie vermisst die beiden sehr. Es würde ihr so viel bedeuten, sie persönlich treffen zu können. In diesem für sie so wichtigen Jahr 2019. Dem Jahr, das die wohl größte Zäsur ihres Lebens darstellen wird.