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Politik

Die Religiösen gegen die Säkularen

16. August 2018

Der Konflikt um das neue Erbrecht in Tunesien zeigt, wie gespalten die arabischen Gesellschaften sind. Viele Menschen haben Vorbehalte gegen den Säkularismus. Dessen Kritiker haben einige Argumente auf ihrer Seite.

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Tunesien Nationaler Frauentag in Tunis
Demonstration in Tunis am nationalen Frauentag: Mehr Gleichstellung gefordertBild: Reuters/Z. Souissi

Demonstrativ hielt Präsident Beji Caid Essebsi eine Ausgabe der tunesischen Verfassung in die Höhe. Der Text schreibt die Gleichheit von Männern und Frauen vor. Das heißt in der gegenwärtigen Diskussion: Im Erbschaftsfall erhalten beide Geschlechter fortan einen gleich großen Anteil. Männer können fortan nicht mehr damit rechnen, wie selbstverständlich eine doppelt so große Erbschaft wie die Frauen anzutreten.

Gegen das neue Gesetz erhob sich umgehend Protest. Muslimisch-konservative Tunesier erklärten, die neue Regelung gefährde die religiöse Identität des Landes. Ihnen trat Essebsi, den Text der Verfassung in der Hand, entgegen. "Unsere Verfassung müssen wir respektieren", erklärte er - und machte deutlich, dass er über eine Rücknahme der Erbschaftsreform nicht reden wolle.

Tunesien Besuch Merkel PK mit Beji Caid Essebsi
Zeuge und Protagonist des Säkularismus: der tunesische Präsident Beji Caid Essebsi Bild: picture-alliance/dpa/S. Stache

Präsident Essebsi ist 91 Jahre alt. Er war Anfang 30, als der erste tunesische Staatspräsident nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, sein Amt antrat. Bourguiba wollte Tunesien modernisieren. Dazu gehörte für ihn auch, die Beziehungen zu Europa und den USA auszubauen, die Macht der Religionsgelehrten zu beschneiden und die Frauenrechte zu modernisieren: der Beginn eines Kulturkampfs, der sich bis in die Gegenwart zieht, und der nicht nur Tunesien, sondern viele arabische Staaten durchlief.

Klientelismus und Vetternwirtschaft

In vielen arabischen Ländern setzten die Regierungen nach der Unabhängigkeit auf säkulare Programme. Religiös begründete Herrschaft galt als Relikt vergangener Tage, die Zukunft schien den weltanschaulich neutralen Staaten zu gehören, wie man sie aus der westlichen Welt kannte. Das Problem: Mit der Umsetzung der säkularen Ideale haperte es oft gewaltig. Allzu oft blieben die Missstände früherer Zeiten bestehen - vor allem jene, die die Regierungen der jungen Staaten selbst betrafen.

Tunesien Nationaler Frauentag in Tunis
"Keine Republik ohne Freiheit" steht auf den den Schildern der DemonstrantenBild: Reuters/Z. Souissi

"Auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit sieht man in der Region autoritäre Herrschaftsstrukturen, wirtschaftlichem Klientelismus, Vetternwirtschaft und eine Bevorzugung der Eliten. Darin unterschieden sich die säkularen nicht sonderlich von den konfessionellen Regimes in der Region", sagt der Politikwissenschaftler André Bank vom Hamburger GIGA Institut für Nahost-Studien. Mehr noch, so Bank im DW-Gespräch: "Die säkularen Regime haben dabei ein besonders hohes Maß politischer Gewalt an den Tag gelegt."

Säkulare Gewaltherrscher

Saddam Hussein, von 1979 bis 2003 Staatspräsident des Irak, herrschte über sein Land mit absoluter Gewalt. "Saddam drängte die Macht der Partei an die Seite", zitiert der Jurist Zaid al-Ali in seinem Buch "The Struggle for Iraq´s Future" einen ehemaligen Weggefährten des Diktators. "Die Rolle der Partei bestand nur noch darin, Saddams Willen umzusetzen. Das führte zu einem sich weitenden Graben zwischen ihr und der Bevölkerung. Die Partei führte nicht länger - die Familie führte. Darüber ging die nationale Identität verloren."

Ähnlich ruchlos ging der Asad-Clan in Syrien vor. Hafiz al-Assad, nach einem Putsch seit 1971 syrischer Präsident, gründet seine Herrschaft auf das Militär und ein ausgeklügeltes Spitzelsystem. Die arabisch-sozialistische Baath-Partei, aus der er hervorgegangen war, verwandelte er ähnlich wie Saddam Hussein im Irak in ein persönliches Herrschaftsinstrument. Auch vor Gewalt schreckte er nicht zurück. Den Aufstand der syrischen Muslimbrüder in Hama 1982 ließ er in aller Härte niederschlagen - bis zu 30.000 Menschen starben.

Großformatiges Plakat in der Altstadt von Damaskus
Säkulare Autokraten: Hafiz und Baschar al-Assad, hier ein Plakat aus der Zeit vor 2011Bild: DW

Sein Sohn und Nachfolger Baschar al-Assad, auch er ein bekennender Vertreter des Säkularismus, ließ die gegen ihn gerichteten Proteste des Jahres 2011 nicht minder brutal bekämpfen. Daraus entwickelte sich ein landesweiter Aufstand und schließlich ein internationaler Krieg mit bislang rund 500.000 Toten. Viele der Opfer starben in den Gefängnissen des Assad-Regimes. Die UNO-Untersuchungskommission zu Syrien habe genügend Beweismittel gesammelt, um Bashar al-Assad als Kriegsverbrecher zu verurteilen, erklärte im August vergangenen Jahres die Juristin Carla Ponte, 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und den Völkermord in Ruanda und bis 2017 Mitglied der der Kommission.

Kulturschock Säkularismus

Mit seinem dezidiert säkularen Kurs fügte Hafiz al-Assad vielen seiner Leute zudem einen rabiaten Kulturschock zu, schreibt der Historiker John McHugo in seiner Geschichte des modernen Syrien: "Der anscheinend unveränderliche Gang der Jahrhunderte hatte sich vor ihren Augen vom Kopf auf die Füße gestellt."

Gegen eben diesen Wandel wandten sich seit den 1970er Jahren die islamistischen Bewegungen, so André Bank. Damit hatten sie durchaus Erfolg. "Über die Moscheen und ihre Sozialverbände waren sie so gut organisiert wie keine andere zivile Bewegung in der arabischen Welt. Das hat langfristige Wirkungen auch bis heute. Zuletzt hat sich das im anfänglich säkularen Aufstand von 2011 an gezeigt: Er lief sukzessive auf einen politischen Konflikt wieder die Konfliktlinie zwischen alten Eliten des Militärs und den islamischen Gruppierungen hinaus."

Symbolbild Arabischer Frühling Ägypten
Für einen Staat jenseits der Religion: Protest gegen die regierenden Muslimbrüder 2013 in Kairo Bild: picture-alliance/AP Photo/Khalil Hamra

Gemäßigt islamistische Gruppen wie etwa die Muslimbrüder genießen nicht nur wegen ihres Kampfes gegen Autokraten und Diktatoren Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung. Viele Muslime teilen auch ihre ideologischen Ansichten. Das gelte etwa für die Debatte um islamisch geprägte Menschenrechte, so André Bank. "Die sind nicht eins zu eins mit den universellen Menschenrechten identisch. Es gibt zwar viele Ähnlichkeiten, aber auch gewisse Unterschiede - etwa mit Blick auf das Geschlechterverhältnis, die Bedeutung der Familie und generell den Wahrheitsanspruch transzendenter Glaubenssätze. Die spezifisch islamischen Aspekte sind in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin sehr verbreitet."

Konservative zeigen Kompromissbereitschaft

Allerdings, so Bank, gebe es auch Ansätze zu weltanschaulichen Entwicklungen. "Dies gilt gerade für Tunesien. Die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei unter ihrem Vorsitzenden Rachid al-Ghanushi hat sich in den Verhandlungen um die neue Verfassung kompromissbereiter gezeigt. In anderen Ländern ist ein solcher Prozess sehr viel schwerer durchzusetzen."

So verstanden ist der Verfassungstext, den der tunesische Staatspräsident Beji Caid Essebsi den islamisch-konservativen Bürgern seines Landes entgegenhielt, auch eine Einladung zum Dialog. Der allerdings hat mittlerweile enge Grenze. Die muslimischen Vorstellungen zur Ordnung von Staat und Gesellschaft enden für ihn exakt da, wo der Geist der Verfassung beginnt.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika