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Brüssel: Verzögertes Kriegsende vor 100 Jahren

10. November 2018

Revolution, Soldatenrat, Spanische Grippe und Flüchtlinge. Die Lage in Belgien war am Kriegsende zunächst chaotisch. Vom Waffenstillstand bis zur Rückkehr des Königs vergingen elf Tage. Eine Ausstellung im Museum BELvue.

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Ausstellung Belvue Museum Brüssel Ende Erster Weltkrieg
Der Soldaten-König Albert (auf weißem Pferd) kehrt zurück: Sorgfältig geplante ZeremonieBild: DW/B. Riegert

"Ist der Krieg wirklich vorbei?" Am 11. November 1918 gingen wieder einmal Gerüchte durch das besetzte Brüssel. Die Deutschen seien endgültig besiegt, hieß es, ein Waffenstillstand könne unterzeichnet werden. Aber in der Innenstadt, am Rathaus, am Südbahnhof, in vielen Straßen hallten Schüsse. Noch wurde gekämpft.

Genaues wusste man nicht. Die deutschen Besatzer zensierten die Presse in Belgien. Es gab lediglich einige Untergrundzeitungen. Nachrichten sickerten über ausländische Medien, zum Beispiel aus den Niederlanden ein. Aber bis man wirklich sicher war, dass der Krieg vorbei war, vergingen noch Tage.

In der Ausstellung "Brüssel, November 1918" zeigt das "BELvue"-Museum in Brüssel anhand von historischen Fotografien, Filmen und Dokumenten, wie die Belgier die Wirren in den Tagen am Ende des Ersten Weltkrieges erlebten.

Revolutionäre Soldaten und verhaltene Stimmung

Zwischen dem 9. und dem 15. November 1918 gingen die deutschen Soldaten in Brüssel gegenseitig aufeinander los. Aufständische deutsche Soldaten hatten nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs auch in Belgien die Revolution ausgerufen. Am 10. November, einem Sonntag, gründeten sie einen "Soldatenrat", um die Stadt zu regieren. Doch die Offiziere und kaisertreuen Soldaten machten nicht mit, schossen auf die ehemaligen Kameraden und warteten auf Befehle aus Berlin, die nicht mehr kamen.

Ausstellung Belvue Museum Brüssel Kriegsende 1918 Kuratorin Chantal Keeselot
Kuratorin Chantal Kasteloot zeigt Karteikarten von in den Kriegswirren vermissten PersonenBild: DW/B. Riegert

"Die Situation war sehr ungewöhnlich", sagt Chantal Kesteloot vom belgischen Staatsarchiv. "Bis zum 14. November war die Stadt in den Händen des Soldatenrates. Es waren nicht die alliierten Truppen, die die Stadt befreiten, sondern die aufständischen deutschen Soldaten." Die Revolutionäre des Soldatenrates versuchten sich sogar mit der belgischen Bevölkerung zu verbünden. Doch die Brüsseler hatten zu sehr gelitten in den vier Jahren unter deren Besatzung. Sie hungerten und sie froren. Lebensmittel und Kohlen waren knapp in diesen kalten Novembertagen.

"Es war nicht die Euphorie, die man vielleicht erwartet", sagt Kuratorin Kesteloot. "Die Menschen blieben zu Hause, weil alles so unübersichtlich war." Feiern und jubelnde Menschen auf den Straßen gab es nicht, solange die Deutschen noch in der Stadt waren. "Die letzten deutschen Soldaten verließen Brüssel mit dem Zug Richtung Heimat", sagt Kesteloot. Der letzte Zug fuhr ab kurz bevor die Alliierten am 16. November in der Stadt eintrafen - fünf Tage nach dem Waffenstillstand.

Erst einen Tag später - am Sonntag, dem 17. November - befreiten sie Bürgermeister Adolphe Max aus dem Gefängnis. Und erst als er auf dem Marktplatz vor dem historischen Renaissance-Rathaus zu Tausenden sprach, war endlich klar: Der Krieg ist aus. "Es war eine Stimmung als habe man die Fußballweltmeisterschaft gewonnen", sagt Chantal Kesteloot vom "BELvue"-Museum. Die Menschen wagten zum ersten Mal wieder, die belgische Flagge zu zeigen.

Ausstellung Belvue Museum Brüssel Ende Erster Weltkrieg
Manneken Pis: Das Brüsseler Wahrzeichen schlägt in dieser zeitgenössischen Karikatur die deutschen Pickelhauben in die FluchtBild: DW/B. Riegert

Rückkehr des Königs verzögert sich

Auch König Albert I. ließ sich Zeit mit seiner Rückkehr. Vier Jahre lang hatte er die belgische Armee befehligt und im westlichen Zipfel Flanderns ausgeharrt, der nicht von Deutschen besetzt war. Nun wollte der auf sein Image bedachte König einen triumphalen Einzug in Brüssel halten. "Der König kam mit dem Auto am 20. oder 21. November zurück. Der Einzug wurde für den 22. November organisiert. Das war der symbolische Akt, um Brüssel und Belgien offiziell zu befreien", erzählt Kuratorin Kesteloot. So blieb etwas Zeit für die Vorbereitung des Festakts. Es wurden eilig erste Denkmäler und Monumente errichtet. Aus ganz Belgien sollten zu Fuß oder in Pferdewagen Tausende Schaulustige nach Brüssel reisen. Die Ausstellung im "BELvue"-Museum zeigt unter anderem Filmaufnahmen der zwei Kamerateams, die den Einzug des Königs für die Nachwelt auf Zelluloid festhielten.

Albert stieg vom Auto aufs Pferd um. Er ritt einen Schimmel, damit man ihn leicht von den anderen Reitern auf ihren dunklen Pferden unterscheiden konnte. Seine Markenzeichen waren Uniformmantel und Stahlhelm. Der König war sehr beliebt bei seinen Untertanen. Noch am 22. November kündigte er demokratische Reformen an. Das Gleiche Wahlrecht nach dem Prinzip "ein Mann, eine Stimme" wurde eingeführt. König Albert I. war der erste Monarch Belgiens, der eine ständige Begleitung durch die Presse zuließ. Er erkannte, wie wichtig das neue Medium Film für die Propaganda war. Im Krieg ließ er die Armee mit Filmteams ausstatten. Es durften allerdings nie Kämpfe oder getötete Soldaten gezeigt werden.

Flüchtlinge und Spanische Grippe prägen Brüssel

Im Großraum Brüssel lebten vor 100 Jahren rund 700.000 Menschen, hinzu kamen rund 100.000 Flüchtlinge, die von den Schlachtfeldern in Nordfrankreich und Flandern vertrieben worden waren.

Ausstellung Ende Erster Weltkrieg in Brüssel im Musem BelVue
Eine Stadt voller Flüchtlinge: 100.000 Menschen suchten zeitweise Schutz in Brüssel Bild: Belgisches Nationalarchiv

"Den Flüchtlingen zu helfen, war für manche eine patriotische Pflicht, weil das eine Möglichkeit war, den Deutschen Widerstand zu leisten", erklärt Chantal Kesteloot vom BELvue-Museum. "Aber es gab auch viele Menschen, die eher mit Fremdenfeindlichkeit auf die Flüchtlinge reagierten." Die vielen Menschen unterzubringen und zu ernähren, blieb über Monate schwierig. Die Versorgung mit Lebensmitteln funktionierte in Brüssel bis in das Jahr 1920 hinein mit speziellen Lebensmittelkarten und staatlicher Bewirtschaftung. "Die Menschen waren viel schwächer als 1914. Aber es gab in Brüssel keine Zerstörungen wie in anderen belgischen Städten, die durch Kämpfe teilweise schwer getroffen wurden. In Brüssel gab es überhaupt keine schweren Kämpfe."

Mehr als die Kriegsfolgen machte Brüssel und ganz Belgien ein unsichtbarer Feind zu schaffen: die Spanische Grippe. Der Virus raffte weltweit zwischen 1918 und 1920 mindestens 25 Millionen dahin. Allein in Brüssel waren es Tausende Menschen - weit mehr als in der Stadt durch den Krieg umgekommen waren. Das Virus, das trotz des Namens nicht aus Spanien, sondern vermutlich von US-Soldaten nach Europa eingeschleppt wurde, hatte in der geschwächten Bevölkerung leichtes Spiel. Bis heute ist nicht klar, warum die Krankheit vor allem für junge Menschen zwischen 18 und 28 besonders oft tödlich verlief. "Es war sehr schwierig für Eltern zu akzeptieren, dass ihr Sohn vier Jahre in den Schützengräben oder einer besetzten Stadt überlebte, um dann in Brüssel plötzlich an der Grippe zu sterben", berichtet Kuratorin Kesteloot, die auch Tagebücher von Soldaten und deren Familien ausgewertet hat.

Ausstellung Ende Erster Weltkrieg in Brüssel im Musem BelVue
Gedenken in allen Facetten: Erinnern an die "Soldaten-Tauben", die im Ersten Weltkrieg als Kuriere im Einsatz warenBild: DW/B. Riegert

An den Ersten Weltkrieg, der in Belgien wegen der großen Opfer der "Große Krieg" genannt wird, erinnern allein in Brüssel 300 Straßennamen, die an Schlachten oder Kriegshelden erinnern. Es gibt mehrere Dutzend Denkmäler, unter anderem für gefallene Eisenbahner oder auch die Brieftauben, die im Ersten Weltkrieg an der Front als Boten eingesetzt wurden. Deutschstämmige Belgier oder Deutsche, die schon lange vor dem Krieg in Belgien lebten, wurden ausgewiesen oder vertrieben. Für sie begann, wie es auf einem Buchtitel heißt, "der Krieg nach dem Krieg".

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union