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"Gleichheit ist keine Gleichmacherei"

1. April 2019

Der Aufstieg populistischer Parteien hat wirtschaftliche Gründe, sagt Branko Milanović. Der Ökonom gilt als einer der renommiertesten Ungleichheitsforscher. Im DW-Interview hat er auch Ideen für eine gerechtere Welt.

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Symbolbild Gegensatz von Armut und Reichtum
Bild: picture alliance/dpa/C. de Luca

DW: Sie sind in der letzten Zeit sehr gefragt, an diesem Montagabend zum Beispiel halten Sie einen Vortrag in Berlin. Was sagt das über die Welt, wenn ein Ungleichheitsforscher so gefragt ist?

Branko Milanović: Das ist eine gute Frage. Das zeugt davon, dass die Ungleichheit zu einem der Hauptphänomene im Westen geworden ist. Vor allem wegen der politischen Konsequenzen, die sich aus der Ungleichheit ergeben: der Rückgang der Mittelschicht, der Aufschwung der Rechten und des sogenannten Populismus oder die schrumpfende Bedeutung des Westens im Vergleich zu China.

Sie behaupten, dass die rechten Parteien wegen der Ungleichheit Zulauf bekommen?

Ja. Wenn man die Veränderungen in der politischen Landschaft des Westens anschaut, natürlich inklusive der USA und der ehemaligen Ostblockstaaten wie Polen und Ungarn, dann sieht man, dass der sogenannte Populismus - ich mag den Begriff nicht - aus den wirtschaftlichen Veränderungen resultiert. Man kann sagen, dass die Menschen wegen der Migration anders denken und wählen oder dass der latente Nationalismus immer präsent war. Doch das ist eine unzureichende Erklärung.

Branko Milanović, serbisch-US-amerikanischer Ökonom
Branko Milanović, serbisch-US-amerikanischer ÖkonomBild: IMF Photo

Die andere, bessere Erklärung ist, dass die Mittelschicht im Vergleich zu dem reichsten Prozent oder den reichsten fünf Prozent an wirtschaftlicher Kraft verloren hat. Das hat die Suche nach einem Sündenbock verursacht. Was in der politischen Szene geschieht, hat ökonomische Grunde.

Viele der "Abgehängten" wiederholen aber die schlimmsten nationalistischen Parolen der populistischen Parteien. Was haben die Linken falsch gemacht, um diese Menschen nicht zu erreichen?

Die Linke ist in eine Situation ohne erkennbare Politik geraten. Es war ein Fehler, die neoliberale Politik sogar bereitwilliger zu akzeptieren als dies die Konservativen getan haben.

Sie meinen jetzt Tony Blair oder Gerhard Schröder.

Absolut, und Bill Clinton dazu. Heute ist es natürlich leicht zu sehen, dass die Linke einen Fehler gemacht hat, doch damals war es nicht leicht, eine Politik gegen die schon herrschenden Prinzipien der Globalisierung zu formulieren. Heute bezahlt die Sozialdemokratie den Preis, aber damals gab es nicht viele Alternativen.

Sind die soziale Gleichheit und liberale Prinzipien des Kapitalismus widersprüchlich? Denn oft, wenn die Gleichheit erwähnt wird, bekommen viele Ängste vor dem, was die sowjetischen Kommunisten 'Yравниловка' (Urawnilowka)  nannten - die Gleichmacherei.

Die Kritik ist absolut fehlerhaft - nicht jeder, der über Gleichheit spricht, steht für Gleichmacherei und Kommunismus. Gleichheit und Ungleichheit sind keine binären Kategorien. Es ist wie mit der Temperatur - wenn es mir bei 40 Grad zu heiß ist, bedeutet das noch lange nicht, dass ich in Sibirien leben möchte. Also, ich sage nicht, dass es gar keine Ungleichheit geben soll, dass wäre sowieso unmöglich.

Die Minderung der Ungleichheit führt nicht in den Kommunismus. Wir hatten ja zwischen 1945 und 1980 im Westen eine Zeit der Arbeiterparteien, Sozialdemokraten, sogar Konservative, die alle Ungleichheit in ihren Ländern bedeutend minderten, ohne den Kapitalismus zu verlassen. Der Kapitalismus und das relativ akzeptable Niveau der Ungleichheit sind nicht widersprüchlich. Aber die Frage ist vielmehr, ob der liberale Kapitalismus in der globalisierten Welt mit weniger Ungleichheit kompatibel ist.

Ist er?

Es ist heute viel schwieriger. Zwischen 1945 und 1980 wurde ein Wachstum der Ungleichheit durch mächtige Gegengewichte verhindert: starke Gewerkschaften, mehr Bildung, Entstehung der Mittelschicht. Sogar das politische Zentrum und Rechte haben damals höhere Steuern und einen Sozialstaat akzeptiert. Heute kann man wegen der Globalisierung den Kapitalfluss kaum begrenzen - die Reichen schaffen einfach das Geld ins Ausland. Höhere Steuersätze haben an Zuspruch verloren, und die Skepsis gegenüber dem Staat und der Umverteilung wächst.

In ihren Büchern und Texten finden sich einige Rezepte gegen die Ungleichheit. Sie machen sich für Chancengleichheit stark, vor allem, wenn es um Bildung geht, sowie für eine Erbschaftssteuer. Warum?

Die Mittelschicht ist nicht mehr bereit, höhere Steuern und Abgaben zu bezahlen - sie machen ohnehin oft rund die Hälfte des Bruttoeinkommens aus - und die Umverteilung ist unter Verdacht geraten. Deswegen braucht es eine neue Politik mit dem Ziel, die Chancen auszugleichen. Das beinhaltet eine günstigere Steuerpolitik für die Mittelschicht und weniger steuerliche Vorteile für Reiche. Die Erbschaftssteuer mindert die Chancenungleichheit der nächsten Generationen.

Die Bildung hingegen muss öffentlich, hochqualitativ und allen verfügbar sein. In Deutschland mag das kein großes Problem sein, aber in den Vereinigten Staaten sind Privatschulen dominant, besser und sehr teuer. Die Mittelschicht kann für ihre Kinder gute und gleichzeitig bezahlbare Schulen nicht mehr finden.

In Deutschland ist Bildung in aller Regel mit öffentlichen Geldern finanziert und doch studieren die Kinder aus Akademikerfamilien dreimal eher als andere.

Die völlige Gleichheit ist unmöglich, es sei denn man macht eine umgekehrte Selektion wie China in der Kulturrevolution - nur die Arbeiterkinder konnten studieren. Das ist diskriminierend. Der Nachwuchs der gutgebildeten Eltern wird immer mehr Möglichkeiten haben, sich für die Bildung zu interessieren. Aber die Frage lautet: Ist die Gesellschaft fähig, diese Differenzen so zu verkleinern, dass sie nicht mehr riesig und bestimmend sind.

Sie haben eine mögliche Diskriminierung erwähnt. Aber in einem Interview schlugen Sie eine andere Art von Diskriminierung als Gegengewicht zur Globalisierung vor: Migranten sollten nur begrenzte Bürgerrechte genießen. Kann man diese These überhaupt verteidigen?

In einer besseren Welt wäre es gut, mehr Migration mit einfacheren Regeln zu haben. Aber wir leben nicht in dieser besseren Welt. Heute ist die Aufnahme der Migranten in Europa sehr unpopulär - man darf sogar behaupten, dass der Brexit ein Ergebnis der Migration aus Osteuropa nach Großbritannien ist. Der Situation entsprechend sollten wir einen Kompromiss finden: zwischen Bedarf nach Migration, die die globale Ungleichheit mindert und den Menschen aus unterentwickelten Ländern ermöglicht, mehr zu verdienen; und der Bereitschaft der einheimischen Bevölkerung, die Migranten aufzunehmen.

Daher kommt die Idee der sogenannten zirkulären Migration. Die Ankömmlinge könnten etwa in Deutschland nur begrenzt ein paar Jahre lang leben und das nur, wenn sie schon einen Arbeitsplatz gefunden haben. Danach müssten sie nach Hause. Das ist nicht ideal, doch meine Befürchtung ist, dass, wenn man solche Optionen ablehnt, wir gleich bei null Migration landen können.

Der serbisch-US-amerikanische Ökonom Branko Milanović, geboren 1953, ist einer der weltweit renommiertesten Ungleichheitsforscher. Er war Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt heute an der City University of New York. Milanović publizierte zahlreiche Bücher und mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Für sein Buch "Die ungleiche Welt - Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht" bekam er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2016 und Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik 2018.