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Wie politisch ist die chinesische Kunst?

Sabine Peschel
4. Juni 2019

Die moderne chinesische Kunst datiert ihre Anfänge auf das Reformjahr 1978. Wie frei können Künstler in China ihre Einfälle inzwischen umsetzen? Andreas Schmid und Stefanie Thiedig über eine Zeitenwende.

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Melbourne 'Andy Warhol/Ai Weiwei'  Ai Weiwei's 'Mao'
Bild: Getty Images/AFP/P. Crock

Am 4. Juni, vor 30 Jahren, wurden die friedlichen Studentenproteste in Peking von Panzern niedergewalzt. Die öffentliche Erinnerung an das Tiananmen-Massaker ist in China noch immer tabu.

Künstler spielten eine große Rolle in der Bewegung - man denke nur an die Statue der Göttin der Demokratie. Nach der Niederschlagung der landesweiten Demokratiebewegung war die Kunst die erste Ausdrucksform, die in einer neuen Bildsprache nach Möglichkeiten suchte, gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren. Fragen an die Sinologin und Fotografin Stefanie Thiedig und den Künstler, Kurator und Autor Andreas Schmid.

Deutsche Welle: Herr Schmidt, Frau Thiedig, gibt es in China - einem Staat, der in den vergangenen Jahren immer mehr totalitäre Züge angenommen hat und dessen Bevölkerung stark kontrolliert wird - überhaupt noch so etwas wie kritische oder gar systemkritische Kunst?

Andreas Schmid: Es gibt auf jeden Fall Kunst, die sich mit Problemen oder Problemstellungen der Gesellschaft beschäftigt. Das ist eigentlich schon seit 40 Jahren so, seit 1978. Seitdem ist in China bei vielen Künstlern immer ein Unterton da, der sich mit gesellschaftlichen Zuständen beschäftigt, auch wenn die Bilder nicht immer so scheinen. Das heißt, man erschafft ein Werk, bei dem auch zwischen den Zeilen gelesen werden muss. Das war ja früher auch schon üblich. 

Andreas Schmid
Andreas SchmidBild: Privat

2014 haben mir Künstler und Künstlerinnen, die an der Ausstellung "Die 8 der Wege - junge Kunst in Beijing" in Berlin teilgenommen haben, gesagt: "Wir versuchen jeden Tag, die Linie wieder ein bisschen zurückzuschieben, damit die Kontrolle nicht so stark wird." Und sie führten aus: "Unser Bemühen ist, dass wir trotzdem gesellschaftliche Missstände und das, was uns bewegt in dieser Gesellschaft, aufgreifen können." Das war natürlich vor der Verschärfung 2015/16.

Stefanie Thiedig: Ab diesem Zeitpunkt wurde die Kunst wieder abstrakter, Tanz und andere Performances wurden in die Ausstellungen integriert - alles Sachen, die man nicht so direkt greifen kann. Alles wurde ästhetisch schöner, gefälliger, eben weil der Druck größer wurde.

Welche Form sucht sich kritische Kunst jetzt?

Andreas Schmid: Oft sind das, wie ich finde, sehr gelungene Videos. Da haben Frauen wie Cao Fei eine große Rolle gespielt. Auch Fang Lu finde ich eine großartige Künstlerin. Sie ist international tätig und begnügt sich nicht mit rein chinesischen Themen. Zuletzt hat sie einen richtig interessanten Film mit sieben israelischen Frauen gedreht. 

Stefanie Thiedig: Diese Art von Videokunst ist sehr subtil, nicht offen regimekritisch wie bei Ai Weiwei. Sie legt nicht direkt den Finger in die Wunde, ist manchmal auch humorvoll, wie in einem Video von Cao Fei, wo die Fabrikarbeiter ihre Träume tanzen. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung in ganz China 1989 hat sich auch für die bildende Kunst sehr viel verändert. In den 1990er Jahren wurde die moderne chinesische Kunst zum ersten Mal im Ausland mit Bildern des Zynischen Realismus oder des Politischen Pop wahrgenommen. Wie hat sich das entwickelt? 

Ai Weiwei Drifting

Andreas Schmid: In den 90ern war das Erstaunen in Europa, den USA oder auch in Asien groß, dass es überhaupt so eine Kunst gab, auch Kunst, die verstört hat. Sehr politisch ist Xu Yongs Serie "Negatives" mit digitalisierten Negativ-Fotos der Studenten auf dem Tiananmen-Platz im Frühjahr 1989. Aber innerhalb der 90er hat sich in China vieles noch weiter verändert. Es wurden zum Beispiel sehr interessante Installationen gemacht, die sich mit Ökologie beschäftigen, wie bei Yin Xiuzhen oder Song Dong, die sich beide mit dem Zustand der Hutongs (Gassen der Altstadtviertel in Peking, Anm. d. Red.) auseinandersetzen. 

Wang Jianwei hat Bauern, die durch das Staudammprojekt in Sichuan vertrieben wurden, interviewt: Er befragte die Opfer dieser Maßnahmen - etwas, was sonst in China gar nicht gemacht wurde. Man kann dabei nicht einfach sagen, dass er damit gegen das Regime vorginge. Eine starke Arbeit. 

Stefanie Thiedig: Ziel war, Situationen aufzunehmen, wie sie sind, erst einmal dokumentarisch, aber dann in künstlerischer Umwandlung, um Missstände aufzuzeigen. Vor allen Dingen während des rasanten Wachstums in den 90ern - aber das zieht sich ja über die Nullerjahre und bis jetzt durch.Andreas Schmid: Cao Fei hat mit Ou Ning und anderen einen Film über ein kleines Dorf gedreht, das sich gegen Immobilienhaie gewehrt hat. Fünf Leute haben mit Handkameras das Leben in diesem von Hochhäusern umgebenen Dorf gefilmt und die Aufnahmen mit einem unglaublichen Ton unterlegt. Ein ganz toller Film, der 2003 bei der Venedig-Biennale lief. Das ist einfach eine Art subtilen gesellschaftskritischen Engagements, die sich deutlich abhebt von jeder laut vorgetragenen Kritik. Dabei versteht man die Zusammenhänge sehr gut, wenn man den Film sieht. Man hat einerseits ein künstlerisches Erlebnis und ist andererseits gut informiert, was gerade im Perlflussdelta passiert. 

Tiananmen Massaker China 1989
Tiananmen im Mai 1989: Ein Demonstrant bricht nach drei Tagen Hungerstreik zusammen Bild: picture-alliance/KEYSTONE

Kann dieser Film auch in China gezeigt werden? 

Stefanie Thiedig: Teils in Galerien. Mittlerweile ist es tatsächlich so, dass der Staat ganz genau weiß, was wann wo läuft. Die Sicherheitskräfte gehen vorher rum und schauen sich das an. Die Richtschnur heißt: Prostitution, Gewalt, Selbstmord und ähnliche Sachen dürfen nicht gezeigt werden. Gelegentlich kommt es vor, dass man an den Wänden kleine Sticker sieht, die bedeuten: Das mussten wir abnehmen. 

Stefanie Thiedig, Sinologin und Fotografin
Bild: Peter Bialobrzeski

Die Kunst der vier Jahrzehnte nach der Kulturrevolution erzählt vielstimmig, wie China zu dem wurde, was es heute ist. Sie berichtet von der Deutung und Umdeutung der Geschichte - etwas, was in freieren Ländern Religionsführer, Philosophen, Politiker, Schriftsteller oder Journalisten leisten. In den 90er Jahren war das ein absolutes Privileg der bildenden Kunst, denn die Literatur war nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung jahrelang verstummt. Haben die Künstler noch immer so eine Art Deutungshoheit?

Andreas Schmid: Nein. Ich habe kürzlich mit einem chinesischen Künstler zusammengesessen, der sagte: "Es ist einfach aus. Unter diese ganze Geschichte von '78 bis jetzt wurde ein Schlussstrich gezogen, die ist abgeschlossen wie mit einer Stahltür." 

Stefanie Thiedig: Die neue Ära  - Xi Jinping hat sie selbst angekündigt, und er zieht sein Programm wirklich durch. 

Andreas Schmid: Knallhart. Ich glaube, man muss sich auf etwas ganz Neues einstellen. Es werden sicherlich auch wieder andere Formen der Kunst entwickelt werden. Aber es muss wieder etwas neu beginnen. 

Wie verträgt sich die subtil kritische zeitgenössische Kunst mit Xi Jinpings gesellschaftlich verordneter Harmonielehre?

Andreas Schmid: Eigentlich gar nicht, weil durch die Digitalisierung ein Überwachungssystem möglich wird. Auf der anderen Seite wird für Künstler gerade das Narrativ über diese Zeit interessant.

Tank Man-Foto aus China am Platz des Himmlischen Friedens / Tiananmen.
Gelbe Gummienten statt Panzer: 2013 via Weibo verbreitete Fotomontage des berühmten "Tank-Man"-FotosBild: Sina Weibo

Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat chinesische Kunst heutzutage ganz generell? 

Stefanie Thiedig: Erster Faktor ist der Markt. Das ist der große Unterschied. Es geht sehr viel um Profit, und deshalb macht die Regierung auch noch mit: Kunst ist ein wichtiger Markt. 

Die moderne chinesische Kunst ist zunächst im Ausland sehr stark wahrgenommen worden und dann relativ schnell über Hongkong auch in China zum Verkaufsschlager geworden.

Andreas Schmid: Chinesische Sammler tauchen erst ab 2005 auf.

Stefanie Thiedig: Eigentlich erst nach der Finanzkrise, als die westlichen Investoren abgesprungen sind. Danach sind die chinesischen richtig eingestiegen. 

Hält dieser Boom noch an?

Andreas Schmid: Ja, massiv, und er ist auch national erwünscht. Die Sammler und Museen sollen ja weltweit alles zurückholen, nicht nur die alte, auch die moderne chinesische Kunst. Die ursprünglich kritischen, weltbekannten Künstler der 80er und 90er Jahre werden auch in China prominent ausgestellt. 

Das bisher teuerste moderne chinesische Gemälde wurde 2013 für etwa 17 Millionen Euro verkauft, "Das letzte Abendmahl" von Zeng Fanzhi. Künstler wie Fang Lijun, der mit seinen Glatzköpfen in den 1990ern als eher kritisch wahrgenommen wurde, oder Yue Minjun mit seinen lachenden Fratzen, werden vom Markt vollkommen aufgesogen. Gibt es noch Künstler, die sich dagegen wehren wollen, dass ihre Werke durch Marktmechanismen ihrer subtilen oder subtil kritischen Stellungnahme entkleidet werden?

Fang Lijun Holzschnitt, zur Versteigerung bei Sotheby's.
Gemälde von Fang Lijun: Seine Bilder waren programmatisch für den Aufbruch der chinesischen Kunst in den 1990er JahrenBild: picture-alliance/dpa/B. Settnik

Andreas Schmid: Es sind immer nur Einzelne, die sich wehren. Sun Yuan & Peng Yu zum Beispiel, ein Künstlerpaar, das sehr, sehr engagierte Kunst macht. Zum Beispiel haben sie einen SUV als Polizeiauto nachgerüstet und sind die ganze Nacht in Peking auf den Ringen herumgefahren. Was natürlich eine Wahnsinnsaktion ist. Sie lassen sich auch nicht unterkriegen und sind bis jetzt erstaunlicherweise auch noch nicht behelligt worden.

Stefanie Thiedig: Aktionen sind vielleicht auch noch einfacher, als große Gemälde zu zeigen. Man möchte ja auch nicht immer nur im Ausland gezeigt werden. Man macht das auch fürs eigene Land, da möchte man gesehen und wahrgenommen werden und dort die Auseinandersetzung führen, um etwas zurückzubekommen. Und das wird inzwischen sehr viel schwieriger. 

Wie wirksam ist in Anbetracht der veränderten Verhältnisse die Selbstzensur?

Stefanie Thiedig: Das ist ein großes Thema. Dadurch, dass man nicht genau weiß, was man machen darf und was nicht, wird es willkürlich. Dann greift die Selbstzensur. Andererseits gibt es immer noch Künstler, bei denen man sich erstaunt sagt, was für ein Wahnsinn, was die sich weiterhin trauen. Und wiederum einige, die, wie ich schon erwähnte, abstrakter werden oder plötzlich Landschaft malen. Aber vielleicht ist das auch jetzt gerade so ein Übergangsmoment, wo man erst mal schauen muss, dass es eine neue Form gibt. Denn wir sind jetzt gerade an einem Umbruch. 

Andreas Schmid: Man kann manchmal auch etwas in Kanton ausstellen, was man in Peking nicht zeigen kann, oder in Shanghai oder Chengdu. Horden von chinesischen Künstlern haben Peking verlassen, um nach Shanghai oder sogar zurück in ihre Heimatstädte zu gehen, weil sie sich sagen, da können wir noch irgendwie bleiben. In Peking haben viele ihre Wohnung und ihr Atelier in den abgerissenen oder gentrifizierten Künstlervierteln verloren. 

Andreas Schmid hat in Deutschland und China Kunst studiert. Er lebt und arbeitet seit 1987 in Berlin als Künstler, Kurator und Autor. Mit seinen Ausstellungen und Publikationen gehört er zu den Pionieren, die chinesische Kunst in Deutschland und Europa bekannt gemacht haben. 

Stefanie Thiedig, Sinologin und Fotografin, ist seit 2009 als Freelancerin unter dem Namen "Kulturgut 文化财富" tätig, einer Kulturvermittlung und Plattform freischaffender Kreativer für Kunst- und Kulturprojekte in Peking und Hamburg. Seit 2000 regelmäßig in China, von 2007 bis 2017 mit Lebensmittelpunkt in Peking, seit 2018 wieder in Hamburg, arbeitet sie aktuell an ihrer Dissertation über das Kunstviertel 798.

Das Gespräch führte Sabine Peschel.