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Holocaust-Hochstaplerin entlarvt

Bettina Baumann
3. Juni 2019

Eine jüdische Familiengeschichte mitsamt 22 in Yad Vashem eingereichten Opfern - damit zog die deutsche Bloggerin und Historikerin Hingst jahrelang Aufmerksamkeit auf sich. Nun ist klar: Das war frei erfunden.

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Halle der Namen in Israel.
In der Halle der Namen in Yad Vashem werden die Gedenkblätter der Holocaust-Opfer gesammelt und ausgestelltBild: picture-alliance/Dumont/E. Wirba

"Es ist die Aufgabe von Yad Vashem, dokumentarisches Material in Israel über all die Juden zu sammeln, die ihr Leben hingaben, die gegen den Nazifeind und dessen Helfer kämpften und rebellierten. Ihre Namen und ihr Andenken soll verewigt werden (...)", heißt es ganz oben auf dem Gedenkblatt aus Yad Vashem, der zentralen israelischen Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts. 

Das Formular kann jeder online abrufen und per Post oder digital nach Israel schicken. Dinge wie Name, Wohnort und Beruf werden darin abgefragt - mit dem Ziel, die Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten und zumindest einem Teil der rund sechs Millionen Holocaust-Opfern eine Identität zu geben. 

Am 8. September 2013 füllte auch Marie Sophie Hingst aus Deutschland das Formular aus - allerdings ohne bei der Wahrheit zu bleiben. So behauptete die in Irland lebende promovierte Historikerin mit ihren 22 ausgefüllten Gedenk- oder Opferbögen, dass große Teile ihrer Familie im Holocaust umgekommen seien. Einem aktuellen Bericht des Nachrichtenmagazins "Spiegel" zufolge ist die jüdische Familiengeschichte jedoch erfunden. 

In Wahrheit aus einer evangelischen Familie

Wie die Wochenzeitschrift nach Recherchen im Stadtarchiv Stralsund schreibt, stammt Hingst aus einer evangelischen Familie. Ihr Großvater soll demnach nicht - wie von ihr behauptet - Häftling im Vernichtungslager Auschwitz gewesen sein, sondern evangelischer Pfarrer.

Auch für die 21 weiteren angeblichen Holocaust-Opfer lassen sich in keinem Archiv Spuren finden - weder in den Digital Collections des Suchdienstes International Tracing Service noch im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz oder im Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland, schreibt der Spiegel. 

Doch einmal in die Welt gesetzt, verbreitete Marie Sophie Hingst ihre erfundene Familiengeschichte auf diversen Wegen: In ihrem Blog "Read on my dear, read on" (er zählt  fast 240.000 regelmäßige Leser; mutmaßlich aus aktuellem Anlass ist er derzeit nicht aufrufbar) sowie - laut Spiegel - in Gesprächen mit Kommilitonen und Vorträgen.

Geltungsdrang als Motivation?

Die ersten Jahre in Dublin, so erzählte sie dem Spiegel, seien schwere Jahre für sie gewesen. Sie habe kaum jemanden gekannt, sei isoliert gewesen. In jener Zeit startete Hingst ihren Blog, schaffte sich so womöglich eine "Art Ersatzheimat" und machte sich als angebliche Nachfahrin von Holocaust-Opfern zugleich interessanter als "andere, nicht jüdische Deutsche".  

Marie Sophie Hingst bei der Preisverleihung zur "Bloggerin des Jahres" 2017.
Marie Sophie Hingst bei der Preisverleihung zur "Bloggerin des Jahres" 2017Bild: OBS/Die Goldenen Blogger/H. Andree

Für ihre Arbeit, das Erzählen der Leiden ihrer vermeintlichen jüdischen Vorfahren, erntete Hingst viel Anerkennung. 2017 wurde sie zur "Bloggerin des Jahres" gekürt (s. Bild oben). Im Jahr darauf verlieh ihr die "Financial Times" bei einem Essaywettbewerb den "Future of Europe"-Preis. Auch da sprach Hingst von ihrer angeblichen jüdischen Familie und verglich deren Schicksal mit dem der Flüchtlinge, die heute an Europas Küsten stranden. Es gab viel Beifall. 

"Oft der einzige Nachweis für die Existenz eines Holocaust-Opfers"

Das Team von "Die Goldenen Blogger", das Hingst 2017 als Bloggerin des Jahres ehrte, hatte die Preisträgerin auf Twitter zunächst um Stellungnahme gebeten. Mittlerweile wurde ihr der Preis aberkannt. Man behalten sich jedoch vor, den Vorgang neu zu bewerten, falls "sich die Lage ändern" sollte, hieß es. Ein Sprecher von Yad Vashem sagte der Deutschen Presseagentur am Sonntag (2.6.2019), man habe die von Hingst eingereichten Gedenkbögen zur weiteren Untersuchung an Experten übergeben. 

Weiter sagte er: "Oft sind die Gedenkseiten der einzige Nachweis für die Existenz eines Holocaust-Opfers." Die Seiten würden nach ihrer Übergabe kurz geprüft, um grundlegende Informationen zu verifizieren, wie etwa biografische und geografische Angaben. Grundsätzlich gehe man davon aus, dass die Gedenkseiten in ehrlicher Absicht ausgefüllt werden, und letztlich sei die Person, die sie einreiche, für den Inhalt verantwortlich. Der Sprecher räumte ein: "Dieser Prozess ist nicht hundertprozentig sicher (...)".

Plötzlich nur noch "Literatur" 

Die Reaktion von Marie Sophie Hingst auf die Enthüllungen fiel überraschend aus. Über ihren Anwalt teilte sie dem Spiegel mit, dass die Texte in ihrem Blog "ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch" nähmen. "Es handelt sich hier um Literatur, nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung." Zudem habe sie "zu keiner Zeit" im "Rahmen von Texten mit realen Lebensdaten Unwahrheiten über ihre eigene  Familiengeschichte verbreitet". Zwar habe sie eine "Liste von 22 Personen aus dem Nachlass ihrer Großmutter" an Yad Vashem übergeben, sie aber nicht selbst überprüft. 

Der Fall Marie Sophie Hingst ist nicht der einzige, bei dem aus der leidvollen Geschichte der Juden während des Zweiten Weltkriegs Profit geschlagen wurde - sei es aus finanziellen Gründen oder um der Aufmerksamkeit willen.

So erschienen 1995 mit "Bruchstücke aus einer Kindheit" gefälschte Erinnerungen des vermeintlichen lettischen Holocaust-Überlebenden Binjamin Wilkomirski, der sich als Schweizer Nichtjude entpuppte. 

Erst Ende vergangenen Jahres kam ans Licht, dass sich der langjährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg in Schleswig-Holstein, Wolfgang Seibert, seine jüdische Herkunft ebenfalls ausgedacht hatte: Zwar waren seine Pflegeeltern jüdisch, seine leiblichen aber waren es nicht. 

Cover des Buches  "Überleben unter Wölfen" v. Misha Defonseca
Gefälschte Holocaust-Autobiografie "Überleben unter Wölfen" Bild: Getty Images/AFP/O. Laban-Mattei

Finanzielle Vorteile dürfte sich die Belgierin Monique de Wael versprochen haben, als sie unter dem Pseudonym Misha Defonseca 1997 ihr Buch "Überleben unter Wölfen" veröffentlichte. Darin schildert sie ihre Flucht als achtjähriges jüdisches Mädchen über Belgien, Deutschland und Polen, bei der sie Wölfe begleitet und schließlich in deren Rudel aufgenommen haben sollen. Aber: Auch das war erfunden und so musste die Autorin 22,5 Millionen US-Dollar (16,3  Millionen Euro) an ihren Verlag Strafe zahlen

Marie Sophie Hingst hat im Gegensatz zu Seibert und Defonseca keinen Betrug im rechtlichen Sinne begangen. Aber sie alle haben die Öffentlichkeit getäuscht, fehlenden Respekt vor der Erinnerungskultur bewiesen und Holocaust-Opfer verhöhnt.

Hingst erfand noch mehr Geschichten

Im Fall Hingst stellte sich jetzt heraus, dass sie nicht nur eine jüdische Identität erfunden hat, sondern auch in anderen Fällen gelogen hat: So behauptete die Bloggerin, sie habe in Indien eine Slum-Klinik gegründet und dort eine Sexualberatungssprechstunde für junge Männer eingerichtet, ein ähnliches Angebot habe sie später auch für Flüchtlinge in Deutschland ins Leben gerufen. Diese erfundene Geschichte erzählte sie auch den ARD-Anstalten SWR und BR. Beide sendeten 2017 Interviews mit Marie Sophie Hingst, die, so ein verantwortlicher Redakteur, "sehr überzeugend" geklungen hätte. Man bedaure die Ausstrahlung und habe das Publikum informiert, hieß es. "Möglicherweise" sei man "nicht so sensibilisiert" gewesen, wie man es hätte "sein müssen".