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Von Europa nach Australien - ohne zu fliegen

Ellie Broughton
8. Juli 2019

Ein Leben mit kleinem CO2-Fußabdruck war für Giulia Fontana und Lorenz Keyßer immer leicht - bis sie nach Australien eingeladen wurden. Giulias beste Freundin wollte heiraten und Giulia sollte die Trauzeugin sein.

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Ein Mann und eine Frau mit großen Rucksäcken auf dem Rücken auf einem Bahnsteig in Berlin, im Hintergrund der Zug nach Moskau
Bild: Lorenz Keyßer/Giulia Fontana

Wie lange dauert eine Reise von der Schweiz nach Australien? Lorenz Keyßer (23) und Giulia Fontana (27) haben sechs Monate für die Planung gebraucht, dann 200 Stunden im Zug und zwei Wochen auf einem Frachtschiff verbracht. Vom Besuch des Roten Platzes in Moskau über die Wanderung durch das Lao-Shan-Gebirge in China bis hin zur rumpeligen Fahrt durch die zentralasiatischen Steppen - die Reise fühlte sich wie ein Privileg und manchmal auch wie ein Härtetest für ihre Prinzipien an.

Das Paar fährt nicht Auto und isst kein Fleisch. Vor drei Jahren haben sie festgestellt, dass sie die Abgase, die bei ihren Flügen in die Atmosphäre geblasen werden, nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können.

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Beide studieren Umweltwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Lorenz war überrascht, als er herausfand, dass 60% der Treibhausgas-Emissionen der Universität auf Geschäftsreisen per Flugzeug zurückzuführen waren.

Giulia besuchte ihre Familie in Italien, Lorenz seine in Deutschland. Beide nahmen den Zug. Als Lorenz ein Semester in der britischen Stadt Leeds studierte, fuhr er mit dem Zug dorthin. Genauso machte es Giulia, wenn sie ihn besuchte. In den Urlaub fuhren sie an Orte, die auch ohne Flüge gut erreichbar waren. "Wir waren nur in Europa unterwegs, haben Wanderungen gemacht, und so war es überhaupt kein Problem", sagt Giulia.

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Aber als Giulias beste Freundin, die in Sydney lebt, sie bat, bei ihrer Hochzeit Trauzeugin zu werden, geriet sie in einen starken Gewissenskonflikt.

Blick auf einen Wanderweg im Lao Shan-Gebirge in China
Ein Höhepunkt ihrer Reise war, in Chinas Lao-Shan-Gebirge zu wandernBild: Lorenz Keyßer/Giulia Fontana

Kochrezepte teilen und Sterne "schießen"

Das Paar dachte über die Reise nach und beschloss, dass sie angesichts der langen Anreise besser ein ganzes Jahr in Australien bleiben sollten. Giulia würde sich vor Ort einen Job suchen, Lorenz sein Studium so lange von dort aus weiterführen.

Als sie nach Bahnverbindungen suchten, entdeckten sie, dass sie auch mit dem Frachtschiff reisen könnten. Giulia würde es wirklich schaffen, an diesem ganz besonderen Tag bei ihrer Freundin sein zu können. Lorenz sagt, dass ihm erst da die Größenordnung ihres Vorhabens klar wurde: "Es war die langsame Erkenntnis, dass jetzt alles, was wir in den letzten Monaten geplant hatten, Realität wird."

Sie starteten im vergangenen Juni, nachdem Giulia von Zürich nach Berlin gereist war, um Lorenz zu treffen. Die beiden verließen Deutschland mit dem Zug und reisten durch Europa: von der deutschen Hauptstadt aus über Polen und Weißrussland nach Moskau - dann durch Russland, die Mongolei und in China über Peking nach Qingdao. Dort nahmen sie ein Frachtschiff nach Brisbane und kamen sechs Wochen später an.

Ein mit Containern beladenes Frachtschiff der Firma COSCO Shipping liegt im Hafen von Qingdao, China
In Qingdao trat das Paar seine Seereise nach Brisbane an - auf einem FrachtschiffBild: picture-alliance/dpa/Yu Fangping

"Die wohl außergewöhnlichsten Momente erlebten wir auf dem Frachtschiff", erinnert sich Lorenz. "Wir lernten die Crew kennen und der Ingenieur zeigte uns den Maschinenraum. Von ihm und einem Offizier lernten wir, wie man mit einem Sextanten Sterne 'schießt'. Wir feierten Geburtstage mit der Crew, halfen in der Küche - und sangen oft Karaoke."

Giulia brachte dem Schiffskoch bei, wie man Tiramisu zubereitet, und für eine Party an Bord machte Lorenz Kartoffelsalat nach dem Rezept seiner Großmutter. Mitglieder der Crew besuchten das Paar auch später in Sydney.

Ein weiterer Höhepunkt war eine Wanderung am Ufer des Baikalsees, wofür sie ihre Reise durch Russland im sibirischen Irkutsk unterbrachen. "Der Wald war so dicht und üppig, voller Insekten und Schmetterlinge", sagt Lorenz.

Wie jedes Abenteuer an weit entfernten Orten, brachte die Reise auch den Austausch mit Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Einmal trafen sie eine Gruppe von über 20 Rekruten der russischen Armee, die einquetscht in einem überfüllten Eisenbahnwaggon reisen mussten.

"Sie waren sehr daran interessiert, unsere Meinung zu vielen heiklen politischen Fragen zu erfahren, die mit Russland zu tun haben", sagt Lorenz. Die Soldaten schenkten dem Paar sogar Kaffee und Schokolade - und trotz Protesten sogar Fleischkonserven.

Es war nicht das einzige Mal, dass ihr vegetarischer Lebensstil die Einheimischen zum Kopfschütteln brachte. Der Koch in einem Restaurant in China hatte große Mühe, überhaupt das Prinzip zu verstehen. Er führte sie schließlich in die Küche und ließ sie im Kühlschrank jede Zutat daraufhin prüfen, ob sie sie essen konnten.

Gleise durch die Steppe auf der Strecke von Irkutsk (Russland) nach Ulan Bator (Mongolei)
Die Zugfahrt zwischen Irkutsk (Russland) und Ulan Bator (Mongolei) führte durch eine monotone Landschaft mit vielen Grassteppen Bild: Lorenz Keyßer/Giulia Fontana

Eine wachsende Bewegung

Insgesamt kostete die Reise das Paar umgerechnet rund 4000 Euro, das meiste davon wendeten sie für Schiffstickets und Visagebühren auf.  Lorenz hat berechnet, dass sie bei der Hinreise etwas mehr als 370 Kilogramm CO2 pro Person produziert haben. Durch einen Flug in der Touristenklasse von Zürich nach Sydney kommen laut der NGO Atmosfair schätzungsweise 5,2 Tonnen Kohlenstoffdioxid zustande.

Aber die Kontrolle über das CO2-Budget erfordert Disziplin.

"Als wir in Brisbane eintrafen, kam das Frachtschiff direkt neben dem Flughafen an", sagt Lorenz. "Wir sahen Flugzeuge im Minutentakt landen - es war ein bisschen wie ein Schlag ins Gesicht, der uns sagen will: 'Du hättest das alles in weniger als 24 Stunden schaffen können."

Jetzt trifft das Paar Vorbereitungen, das Ganze noch einmal auf sich zu nehmen. Bald beginnt die Heimreise, dabei werden sie auf einem Frachter von Brisbane nach Japan fahren. Auf einer anderen Route als auf der Hinfahrt geht es dann durch China und Russland zurück nach Hause.

Lorenz und Giulia gehören zu den 360 Menschen, die sich in den letzten zwei Jahren der sogenannten No-Fly-Climate-Sci-Bewegung angeschlossen und sich verpflichtet haben, gar nicht mehr oder zumindest weniger zu fliegen. Und immer häufiger treffen Menschen die gleiche Entscheidung, völlig unabhängig voneinander.

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Seit Greta Thunberg im vergangenen Jahr mit dem Zug 32 Stunden nach Davos gefahren ist, hat die schwedische Staatsbahn ihr Angebot auf der Strecke Stockholm-Kopenhagen-Hamburg ausgeweitet, auf drei Züge pro Tag. Auch die Deutsche Bahn teilte mit, dass sie in diesem Jahr erstmals auf ihren Intercity- und Auslandsstrecken mehr als 150 Millionen Reisende erwartet.

Blick von einem Frachter, der von China nach Australien fährt. Es ist eine Teilstrecke für zwei Reisende der “No-Fly”-Bewegung. Ihr Startpunkt: Europa.
Die Fahrt auf einem Frachtschiff von China nach Australien ermöglicht ein ganze anderes Reisetempo. Die klaustrophobische Enge im Flugzeug wird gegen den weiten Blick zum Horizont eingetauschtBild: Lorenz Keyßer/Giulia Fontana

Das Privileg, schwierige Entscheidungen zu treffen

Dennoch ist für Giulia und Lorenz klar, dass sich dieser Wandel nicht schnell genug vollzieht. Sie heben hervor, dass die Dringlichkeit der Klimakrise ein viel tiefgreifenderes Umdenken darüber erfordere, wie wir unsere Volkswirtschaften führen.

"Obwohl das Handeln von jedem Einzelnen wichtig ist, wird das nicht ausreichen. Wir brauchen wirklich einen systemischen Wandel", sagt Lorenz.

Sie betonen auch, dass es ein großes Privileg ist, so reisen zu können.

Nur eine kleine Minderheit der Menschen kann sich den Luxus leisten, den Planeten mit Flugzeugabgasen zu verschmutzen - weniger als 20% der Weltbevölkerung sind schon einmal geflogen. Giulia und Lorenz haben durch ihre Reise erkannt, wie glücklich sie sich schätzen können. Denn viele Menschen können nicht so frei und sicher die ganze Welt bereisen, auch über Staatsgrenzen hinweg, einfach weil sie zufällig die "falsche" Hautfarbe, Staatsbürgerschaft, sexuelle Orientierung haben - oder der falschen Schicht angehören.

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Ihre Art zu reisen, ist vielleicht noch nicht der Normalzustand. Aber sie haben viel mit anderen Reisenden gesprochen: Zumindest der kleinen Gruppe Menschen, die die Möglichkeit haben, die Welt zu erkunden, sind die Folgen immer stärker bewusst.

"Wir sind natürlich in der Minderheit, aber es gibt viele Leute, die über unsere Art zu reisen nachdenken", sagt Giulia.