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Das Comeback der Werkssiedlungen

Matilda Jordanova-Duda
15. Juli 2019

Zwei aktuelle Probleme, nämlich den Fachkräftemangel und die Wohnungsnot, gehen jetzt einige Firmen, darunter die Deutsche Bahn, gleichzeitig an: Sie wollen Werkssiedlungen bauen. So ganz neu ist die Idee aber nicht.

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Deutschland Zechensiedlung und Förderturm der Zeche Consolidation
Bild: picture-alliance/blickwinkel/S. Ziese

Die Wirtschaft boomt, zahlreiche Arbeitskräfte wandern aus dem Ausland und aus dem weniger prosperierenden Umland ein, es herrscht Wohnungsnot. Klingt aktuell? War aber in der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts auch schon so. Es entstanden Hunderte von Arbeiterkolonien vor allem im Rheinland und dem Ruhrgebiet (siehe Artikelbild: Werkswohnungen im Schatten des Förderturms von Zeche Consolidation in Gelsenkirchen).

Die Siedlungen waren meist direkt auf dem Werksgelände, das Wohnrecht war an den Arbeitsvertrag und an ein gewisses Wohlverhalten gekoppelt. Wer streikte oder sich gewerkschaftlich organisierte, lief Gefahr, auch gleich das Dach über dem Kopf zu verlieren. Bewohner der BASF-Kolonie, deren Söhne 14 Jahre alt, aber nicht in der Fabrik beschäftigt waren, verpflichteten sich sogar, "dieselben nicht in der Wohnung zu dulden", so der Verein Rhein-Neckar-Industriekultur.

Werksaufseher, Meister und Verwalter wohnten auch in den Kolonien. Ihre - komfortableren - Häuser waren bevorzugt in der Nähe der Eingänge: So konnten sie die Belegschaft auch nach Feierabend im Auge behalten.

Siemensstadt
Eines der bekanntesten frühen Beispiele einer Werkssiedlung ist die sogenannte Siemensstadt in Berlin.Bild: Siemens AG

Dankbar noch im Ruhestand

Gleichzeitig waren die Häuschen viel besser ausgestattet als die damaligen Arme-Leute-Quartiere. Sie hatten Gärten, man konnte Kleinvieh für den Eigenbedarf halten. Die Werksinstandhaltung kümmerte sich um Reparaturen und Modernisierung.

Viele dieser ehemaligen Siedlungen sind heute nicht mehr am Rande, sondern mitten in der Stadt und stehen teils unter Denkmalschutz. Die Betriebe haben sie an Pensionsfonds und Versicherungen oder an die Mieter verkauft.

Wenn alte Werksangehörige noch dort wohnen, tolerieren sie viel eher Lärm und andere Emissionen. Macht die Nachtschicht Krach, hetzen sie nicht gleich die Umweltschutzbehörde darauf, sondern freuen sich, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber noch gut zu tun hat.

Fachkräfte anlocken und halten

An diese Tradition knüpft nun die Mittelstandsinitiative "Job & Wohnen" des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft, BVMW, an. Der Verband vertritt rund 900.000 kleine und mittlere Unternehmen mit rund 12 Millionen Arbeitnehmern. "Egal, welches Unternehmen, alle berichten: Wir kriegen keine Leute", weiß der Vorsitzende der Bundeskommission Recht von BVMW, der Rechtsanwalt Peter Diedrich. Manche Unternehmen müssten deswegen schon lukrative Aufträge ablehnen oder Vertragsstrafen zahlen.

Eine bezahlbare Wohnung in der Großstadt würde die begehrten Fachkräfte anlocken und die Fluktuation unterbinden: Man überlegt sich zweimal, den Arbeitsplatz zu wechseln, wenn dabei die günstige Bleibe verlorengeht.

Weil aber eine kleinere Industriefirma, ein Pflegedienst oder eine Kfz-Werkstatt im Unterschied zu einem Konzern nicht die Finanzkraft habe, allein den Bau zu stemmen, hat Diedrich ein Genossenschaftsmodell konzipiert. Für die Gründung einer Genossenschaft sind mindestens drei Mitglieder notwendig: Alle haben die gleichen Stimmrechte und erwerben Anteile nach ihrem Bedarf.

Die erste Genossenschaft ist Ende Juni in Berlin an den Start gegangen. Die sieben Firmen aus verschiedenen Branchen wollen in den kommenden Jahren eine Siedlung in Spandau mit ca. 100  Parteien errichten. Die ersten Familien könnten Ende 2020 einziehen. Weitere zwei Siedlungen sind schon in Planung.

Siedlung Margarethenhöhe in Essen
Die Margaethenhöhe in Essen: Die seit 1906 erbauten Wohnungen waren auf der Höhe der Zeit - technisch und ästhetisch.Bild: picture-alliance/dpa/T. Lang

Klassenlos und nicht teuer

Die Ingenieursgesellschaft GSE mit rund 50 Mitarbeitern beteiligt sich mit fünf Wohnungen am Bauprojekt. "Wir halten das für eine gute Idee. Wir spüren den Fachkräftemangel und wollen unsere Attraktivität als Arbeitgeber dadurch steigern", sagt Bauingenieur Jorg Enseleit. "Wir werden mit diesen Wohnungen werben, aber auch unsere derzeitigen Mitarbeiter fragen, wer Interesse daran hat".

Die Miete wird für Berliner Verhältnisse sagenhaft günstig sein: Kalkuliert sind 8,50 Euro pro Quadratmeter. 30 Prozent der Wohnungen werden öffentlich gefördert und an Beschäftigte der Mitgliedsunternehmen mit kleinem Geldbeutel vergeben. Dort wird der Quadratmeter 6,50 Euro pro Monat kosten.

"Es wird dabei keine Business- und keine Economy-Class geben", verspricht Initiator Diedrich und stellt stattdessen "Schönes Wohnen für Jedermann" in Aussicht. Die Initiative rechnet mit 2350 Euro Gesamtkosten pro Quadratmeter: vielfach billiger als üblich.

Billiger bauen

Günstig wird es, weil die Genossenschaft keinen Grund und Boden kauft: Die Siedlungen entstehen auf kommunalen Grundstücken in Erbpacht oder auf Grundstücken, die Genossenschaftsmitglieder als nicht betriebsnotwendige Immobilien einbringen. Letzteres ist möglich, weil der Gesetzgeber die Genehmigung "gemischt genutzte Urbane Quartiere" erleichtert hat. Die bisherigen Projekte sind allerdings in reinen Wohngegenden mit einer guten ÖPNV-Anbindung.

Geld werde auch durch vorgefertigte Bauteile gespart: "Je nachdem, wie viele Geschosse am jeweiligen Standort zulässig sind, verwenden wir massiven Baustoff oder Holz", sagt Architektin Eva Dedering. "Wir entwickeln auf dem gleichen Maßraster, sodass sich 1- bis 4-Zimmerwohnungen flexibel kombinieren lassen". Ihre Entwürfe zeigen weiße Blocks mit bunten Elementen und viel Grün, mit Kitas und Gemeinschaftscafés.

Siedlung Schuengelberg, im Vordergrund der neue Teil im Hintergrund der aeltere Teil der Siedlung, district Schuengelberg, new part in the foreground, old in the background
Die Gelsenkirchener Siedlung Schüngelberg wurde für die Arbeiter der Zeche Hugo gebaut. Dank des Strukturwandels wachsen hier statt der Fördertürme heute Bäume in den Himmel über dem Stadtteil Buer.Bild: picture-alliance/S. Ziese

Wohnraum als "Non-Profit-Model"

Die Architektin ist überzeugt, dass das Projekt Schule machen wird. Wenn es dann Typenbaugenehmigungen gäbe, ginge es noch schneller und günstiger. Und würde der Staat beim Werkswohnungsbau wie schon bei Hotel- und Bürogebäuden die Mehrwertsteuer erstatten und für geförderte Wohnungen die Grunderwerbssteuer erlassen, wie die Mittelständler fordern, könnten die Mieten noch weiter fallen.

"Wir wollen als Unternehmen keinen Gewinn mit den Wohnungen machen", betont Enseleit. Die Genossenschaftsmitglieder tragen 20 Prozent der Investitionskosten, 15 Prozent schießt die Investitionsbank Berlin (IBB) als öffentliche Förderung zu. Der Rest sind Darlehen. "Wir erfahren größte Aufgeschlossenheit in der Berliner Politik", lobt Diedrich: "Job & Wohnen" versteht sich dabei als Gegenentwurf zum Mietdeckel und dem Ruf nach Verstaatlichung. "Eine Verstaatlichung schafft keinen einzigen Quadratmeter an zusätzlicher Wohnfläche", sagt Diedrich: "Unser Non-Profit-Modell aber schon". Ein riesengroßes Interesse gebe es auch in München, Hamburg, Dresden oder Rostock.

In München, wo die Lage noch angespannter ist als in Berlin, hat übrigens der Betriebsrat der Stadtwerke, einer der größten kommunalen Versorger Europas, längst die Initiative ergriffen. Seit 2016 hat eine Genossenschaft 550 Wohnungen errichtet, damit Busfahrer und Elektrotechniker sich eine Wohnung in ihrer eigenen Stadt weiterhin leisten können. In den nächsten Jahren sind weitere 500 Appartements vorgesehen. Die Idee wurde 2017 für den bundesweiten Betriebsrätepreis nominiert.