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Politik

El Chapo: Die wahren Bosse sind noch frei

Anabel Hernández
19. Juli 2019

Das Urteil gegen Drogenboss El Chapo vermittelt vordergründig ein Gefühl von Gerechtigkeit. Doch die wirklich entscheidenden Fragen wurden im Prozess gar nicht gestellt, meint DW-Kolumnistin Anabel Hernández.

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USA Ankunft Drogenboss El Chapo in New York
Der von Mexiko an die USA ausgelieferte Drogenboss El Chapo im Januar 2017 bei seiner Ankunft in New York Bild: picture-alliance/AP Photo

Das Urteil vom 17. Juli gegen den mexikanischen Drogenboss Joaquín Guzmán Loera, besser bekannt als El Chapo, ging um die Welt. Dass er eine lebenslange Freiheitsstrafe und zusätzlich 30 weitere Jahre Gefängnis bekam und darüber hinaus zur Rückzahlung der angeblichen 12,6 Milliarden Dollar, die sich in 20 Jahren krimineller Karriere angesammelt haben sollen, verurteilt wurde, rief bei vielen Genugtuung hervor. Vor allem bei den weniger eingeweihten Beobachtern, die den "Prozess des Jahrhunderts" wie eine TV-Serie verfolgten. Zweifellos war dieser Prozess einer der weltweit bekanntesten dieser Art, auch dank der Medien und der sozialen Netzwerke.

Der tiefe Fall eines Mythos

Es ist schon ironisch. Am Ende wurde El Chapo doch weltberühmt. Danach hatte er sich seit den Zeiten gesehnt, als er im Alter von sieben Jahren die Grundschule verlassen musste, um seinem Vater im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa beim illegalen Drogenanbau zu helfen. Aber wahrscheinlich hat er sich seinen Ruhm anders vorgestellt. Drei Monate lang saß er auf der Anklagebank in Brooklyn, New York. Zum ersten Mal wurde er in eine kalte Zelle ohne Privilegien gesperrt, musste den Aussagen von vierzehn ehemaligen Partnern, Angestellten und sogar einer ehemaligen mexikanischen Kongressabgeordneten und Geliebten lauschen. Sie alle gaben Zeugnis über bizarre Geschichten voller Gewalt, Rache und Grausamkeit.

Von seinen Anwälten wurde er zum Schweigen verpflichtet, da jede Aussage seinerseits die Dinge wohl nur noch schlimmer gemacht hätte. Die letzten öffentlichen Worte, die der ehemalige Drogenboss vor dem Urteil sprechen durfte, waren auch nicht sonderlich ruhmreich. "Hier gab es keine Gerechtigkeit", sagte er und beschwerte sich über die "unmenschliche Behandlung", die er im Gefängnis erfahren habe. "Die Vereinigten Staaten sind nicht besser als jedes andere korrupte Land", beklagte er.

USA «El Chapo»-Prozess
Zeichnung von Joaquin "El Chapo" Guzman während einer Aussage vor Verkündung seines Strafmaßes Bild: picture-alliance/dpa/E. Williams

Dies war also Schluss und Höhepunkt eines Mythos, der von den Regierungen in den USA und Mexiko geschaffen und von den Medien in die Welt verbreitet wurde. Die Story des Bauern aus den Bergen Sinaloas, der trotz seines genialen kriminellen Verstandes und unnachahmlichen Charmes kaum lesen oder schreiben konnte und doch zu einem der reichsten Männer der Welt aufstieg. Der David Copperfield des Kokains, der mit einem Fingerschnipsen die Drogen an einem Ort der Welt verschwinden und sie wie durch Zauberkraft woanders wiederauftauchen lassen konnte. Dies alles mit der Hilfe einer Handvoll Komplizen sowie einiger hoher Staatsdiener, darunter die ehemaligen Präsidenten Mexikos, Felipe Calderón und Enrique Peña Nieto. Auch der ehemalige hohe Geheimdienstmitarbeiter Genaro García Luna, in dessen Fall belastende Zeugenaussagen von der Staatsanwaltschaft unter Verschluss gehalten werden, gehörte dazu.

Weltumspannendes Korruptionssystem

Von Prozessbeginn an legte der zuständige US-amerikanische Richter Brian Cogan sein Veto gegen die Aufarbeitung der Einzelheiten des Korruptionssystems des Sinaloa-Kartells innerhalb und außerhalb Mexikos ein. Nicht die mexikanische Regierung sitze auf der Anklagebank, argumentierte Cogan am 14. November in einer geschlossenen Anhörung, von der ich eine Abschrift erhielt. Es gehe allein um die Frage, inwieweit Guzmán Loera der zehn Verbrechen schuldig sei, die man ihm zur Last lege: der Herstellung und internationalen Verbreitung von Drogen, der Geldwäsche, des Gebrauchs von Schusswaffen und einiges mehr.

DW Kolumne Anabel Hernández
DW-Kolumnistin Anabel Hernández

Doch wie will man die Verbrechen von El Chapo und ihre Auswirkungen erklären, wenn man nicht über die Korruption innerhalb und außerhalb Mexikos spricht? Über das System, das es ihm und vielen anderen wie ihm erlaubte, Drogen aus Mexiko in die ganze Welt zu exportieren? Wie will man erklären, dass das Kartell ungestraft Millionen von Dollar für jede Tonne Drogen verdienen konnte, ohne dabei das Rechtssystem zu erwähnen, das es erlaubt, dieses Geld für neue illegale Transaktionen zu waschen? Wie lässt sich rechtfertigen, dass das Sinaloa-Kartell weiterhin eine zentrale Rolle im globalen Drogenhandel spielt, obwohl El Chapo seit zwei Jahren in New York in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt ist?

Nach 14 Jahren Recherche über die Geschichte, Struktur und Funktionsweise des Sinaloa-Kartells weiß ich, dass die Hintergründe viel tiefer reichen und komplexer sind, als der reduktionistische Prozess gegen El Chapo uns weismachen will.

Laut dem Institute for Defense Analyses (IDA), einer Denkfabrik, die das US-Verteidigungsministerium berät, ist das Sinaloa-Kartell auf 80 Prozent der Landfläche des Erdballs vertreten: auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, in Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Italien, Niederlande, Spanien und Deutschland sowie in Westafrika. In den Großstädten Indiens und Chinas. Und die Verbindungen reichen auch bis nach Australien und Neuseeland.

Die territoriale Präsenz des Kartells und die beeindruckende Höhe der Nettoeinnahmen aus dem Drogenhandel erfordern eine andere Betrachtungsweise.

Wohin verschwinden die Einnahmen?

Laut einem Buchhalter, dessen Zeugenaussage im Prozess völlig unbeachtet blieb, kauft das Sinaloa-Kartell in Kolumbien, Peru oder Bolivien ein Kilo Kokain für 2.500 Dollar. Sobald dieses Kilo in Mexiko ankommt, hat es einen Großmarktpreis von 15.000 Dollar. Mit einem Viertel bis Fünftel des Handelswertes sind die Bruttokosten des Produkts einschließlich des Transports gedeckt. Der Rest ist Gewinn. Unabhängig davon, wohin auf der Welt das Kilogramm geliefert wird, hat das Kartell eine Gewinnspanne pro Kilo von 300 bis 400 Prozent.

Die Zahlen werden umso interessanter, je weiter dieses Kilogramm Drogen reist. In Los Angeles beträgt der Großmarktpreis 20.000, in Chicago 25.000, in New York 35.000 Dollar. In Italien 55.000 und in Australien 140.200 Dollar. Es ist das Geld und nicht das kriminelle Talent von El Chapo, dass dieses Geschäft so weltumspannend macht. Wer kann denn ernsthaft glauben, dass man ein Geschäftsmodell, das solche Gewinnmargen erwirtschaftet, stoppen kann, indem man Guzmán Loera ins Gefängnis bringt? Wo bleiben denn die meisten dieser Gewinne? Das ist die Frage, die der Prozess gegen El Chapo hätte beantworten sollen, die aber niemand beantwortet haben wollte.

Drogenbekämpfung im Mexiko
Beschlagnahmte Drogen im mexikanischen Bundesstaat JaliscoBild: picture alliance/Photoshot

Die Zahlen muss man in Relation setzen mit einem der bestgehüteten Geheimnisse der mexikanischen Regierung: Wie viele Immobilien, Unternehmen, Bankkonten, wie viel Schmuck und Bargeld von Joaquín Guzmán Loera, seinen Familienangehörigen oder nahe stehenden Personen wurden zwischen 2006 und Dezember 2018 beschlagnahmt? Zu einer Zeit, als während der sechsjährigen Amtszeit der Präsidenten Calderón und Peña Nieto ein "harter" und "unerbittlicher" Krieg gegen den Drogenhandel herrschte?

Ich habe die Herausgabe dieser Information auf der Grundlage des mexikanischen Transparenzgesetzes bei der neuen linken Regierung von Präsident López Obrador beantragt. Sie verweigert dies jedoch und argumentiert, dass es die laufenden Ermittlungen und die nationale Sicherheit gefährden könne. Schließlich bekam ich doch eine Auskunft. Die Antwort lautet: Drei Uhren, ein Grundstück, fünf Schusswaffen, 171 Patronen, fünf Ladegeräte, ein Computer und drei Mobiltelefone. Die lächerliche Aufzählung und die penible Geheimnistuerei sprechen für sich selbst.

Nur eine Schachfigur

Das große Spiel der Mächte, in Gestalt des alljährlichen Handels mit Tonnen von Drogen in die Vereinigten Staaten und andere Teile der Welt, geht auch ohne Guzmán Loera weiter. Die wahren Herren machen weiter. Joaquín Guzmán Loera ist nur eine Schachfigur in diesem Spiel.

Das in New York gegen El Chapo Guzmán verhängte Urteil wird in der öffentlichen Meinung eine flüchtige Wirkung haben, weil es ein gewisses Gefühl von Gerechtigkeit vermittelt. Aber es wird keine abschreckende Wirkung auf diejenigen haben, die beschließen, ein Rädchen in der gewaltigen Maschinerie des internationalen Drogenhandels sein zu wollen, geschweige denn auf die tatsächlichen Bosse und Nutznießer dieses Systems. El Chapo ist keiner von ihnen. Die Hauptverantwortlichen sind noch nicht im Gefängnis.

Die Journalistin und Buchautorin Anabel Hernández berichtet seit vielen Jahren über Drogenkartelle und Korruption in Mexiko. Nach massiven Morddrohungen musste sie Mexiko verlassen und lebt seitdem in Europa. Für ihren Einsatz erhielt sie beim Global Media Forum der Deutschen Welle in Bonn den DW Freedom of Speech Award 2019.