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Glaube

Ort der Hoffnung - Bahnhofsmission

28. Februar 2020

Mitten zwischen der glitzernden Schmuckwelt und den Dealern ist die Bahnhofsmission - Ort der Hoffnung für Gestrandete. Petra Schulze hat sich dort umgeschaut.

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Symbolbild Armut Soziale Ungleichheit
Bild: picture alliance/David Ebener

Letzte Hoffnung Bahnhofsmission

Langsam lässt er sich auf den Stuhl gleiten. Die schwielige Hand aufgestützt auf den viereckigen Küchentisch. Vor Schmerzen schließt er die Augen. Die Luft ist stickig in dem kleinen fensterlosen Raum. Schweiß. Ungewaschene Haare. Er hat nur den rechten Schuh an. Der linke Fuß ist verletzt. Ein Zehennagel hat sich entzündet. Da hat er sich lieber mehrere Socken übereinander gezogen. Schwester Marion macht sich an die Arbeit. Holt den Verbandskasten. Zieht ihm die Socken aus. Wir alle halten die Luft an.

Später, als er draußen ist – mit verbundenem Fuß, der eindringlichen Mahnung, ins Krankenhaus zu gehen und einem Pott Kaffee und einem Brot im Bauch – später also lassen wir die Tür der Bahnhofsmission offen stehen. Nur wenig frische Luft strömt aus der Bahnhofshalle ein.

Karfreitag haben wir hier schon genug

Schwester Marion guckt auf den Kalender über dem Küchentisch. Da ist Jesus zu sehen, wie er am Kreuz hängt. Nackt. Geschunden. Ein Gefolterter. Mit klaffenden Wunden. Blutverschmiertem Gesicht. Dem Tod nah – oder ist er schon tot? Unwirsch blättert Schwester Marion um und sagt: „Karfreitag haben wir hier schon genug.“ Auf dem nächsten Blatt erscheint der auferstandene Jesus. In einem langen, weißen Gewand. Gold- und Gelbtöne umgeben ihn wie warme Sonnenstrahlen. Seine Wundmale an Händen und Füßen und an der Seite leuchten wie rote Rubine. Freundlich blickt er uns an. Lächelt mild. Unten, wo die Kalenderdaten stehen, hat die Grafik des Verlages noch ein paar Osterglocken und bunte Eier untergebracht. Es ist kurz vor Ostern. „Karfreitag haben wir hier schon genug.“ Wie Recht Schwester Marion hat. Hier ist das ganze Jahr über Karfreitag.

Große Bahnhöfe – Ort der Kontraste

Schwester Marion habe ich als Studentin kennen gelernt. Heute bin ich beruflich sehr viel auf Bahnhöfen unterwegs. Ob auf dem Bahnhofsvorplatz oder am Hinterausgang, in den Nischen der Bahnhofshalle oder auf dem Bahnsteig – überall sehe ich starke Kontraste. In Berlin zum Beispiel. Am Haupteingang edle Geschäfte mit vergoldeten Füllfederhaltern oder die glitzernde Swarovski-Produktwelt und ganz unten in den Tiefgeschossen Billigläden. Die vorbeihastenden Frauen und Männer gekleidet von Armani bis Kik, von sexy bis seriös. Da sehe ich die mit 80-Stunden-Wochen über den Bahnsteig hetzen und die Arbeitslosen auf dem Weg zum Arbeitsamt. Ich sehe die Dealer und Diebe. Die Wohnungslosen und Bettler. Und die, die ganz aus dem Müll leben. Flaschensammler oder die, die wie die Tauben darauf warten, dass was für sie abfällt. Namenlos gleiten sie aneinander vorbei. Da liegt alles ganz nah beieinander. Und doch ziemlich weit voneinander entfernt. Im Bahnhof wie in den Einkaufsvierteln der Städte.

Reicher Mann und armer Lazarus

Jesus erzählt einmal die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus. Der Reiche lebt in Saus und Braus. Der arme Lazarus fristet ein elendes Dasein vor dessen Tür und nährt sich von dem, was vom Tisch des Reichen abfällt. Nah beieinander und doch weit voneinander entfernt. Als beide gestorben sind, ist die Kluft nicht aufgehoben. Während Lazarus von Engeln direkt in Ur-Vater-Abrahams Schoß getragen wird, schmort der Reiche in den Flammen der Hölle. Und selbst da hat er nichts gelernt. Denn statt sich direkt an Lazarus zu wenden, ruft er zu Abraham herüber: He, schick mir doch mal den Lazarus, der soll meine brennende Zunge kühlen und mit Wasser benetzen. Das Spiel spielt Abraham nicht mit. Streng verweist er den Reichen darauf, dass er schon zu Lebzeiten aus den jüdischen Geboten hätte wissen können, wie man mit Armen umgeht.

Ich glaube nun nicht an die Hölle und dass wir da schmoren werden. Ich will aber Jesus ernst nehmen, der mit der Geschichte sagt: Du kannst es hier und jetzt wissen: Sprich den Armen an. Nenn ihn beim Namen. Seid zueinander wie Geschwister. Ihr seid eine Menschheitsfamilie. Die Kluft – die kannst du überwinden. Genauso wie ich das getan habe. Manchmal gelingt mir das – nicht immer. Gebe Gott mir, gebe Gott uns den Mut.

Evangelische Pfarrerin Petra Schulze
Bild: Petra Schulze

Zur Autorin: Landespfarrerin Petra Schulze ist die Evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR und Leiterin des Evangelischen Rundfunkreferates NRW in Düsseldorf.