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Oksana Lyniv: "Kein Rückzug ins Private"

3. Mai 2020

Eine der angesagtesten jungen Musikerinnen Europas sieht die Corona-Krise nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance.

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Dirigentin Oksana Lyniv
Bild: Serhiy Horobets

Sie ist eine international gefragte Dirigentin und Identifikationsfigur für viele junge Künstler Osteuropas. Wer die Aktivitäten der UkrainerinOksana Lyniv in den letzten zwei Monaten vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie beobachtet hat, dem konnte schon mal schwindelig werden: Sie präsentierte mit Béla Bartóks "Judith" und "Blaubarts Burg" eine umjubeltePremiere in München, debütierte an der Berliner Staatsoper mit "Medea" von Luigi Cherubini - und bereitete mit der "Passagierin", einem Meisterwerk des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg, eine zentrale Neuproduktion an der Oper Graz vor, deren Generalmusikdirektorin Lyniv noch bis Ende der Saison ist.

Parallel arbeitete sie an Projekten in ihrer Heimat, der Ukraine, wo sie 2017 ein Jugendorchester und das Festival LvivMozArt mitbegründet hat. Zehn Flüge pro Woche waren keine Ausnahme, kaum ein Tag verging ohne Proben und Aufführungen. Dann kam der Stillstand.

Anastassia Boutsko hat Oksana Lyniv in Düsseldorf getroffen, wo die gefeierte Dirigentin seit einigen Wochen zu Hause ist.

Deutsche Welle: Frau Lyniv, wie geht es Ihnen?

Dirigentin Oksana Lyniv
Nicht resignieren: Oksana Lyniv in DüsseldorfBild: Serhiy Horobets

Oksana Lyniv: Wir stehen alle vor einer Realität, mit der keiner von uns je rechnen konnte, und vor Folgen, die wir noch nicht absehen und voraussagen können. Ich glaube, ich habe in der letzten Zeit intuitiv versucht, noch möglichst viel zu schaffen, beruflich wie privat.

Den jetzigen Zustand kann man mit Worten kaum beschreiben. Jeder Künstler wird mich verstehen: Der Stillstand erwischte mich und meine Kollegen nach der Generalprobe der "Passagierin" – das war womöglich die wichtigste Produktion meines Lebens und mein Abschied nach den Jahren als Generalmusikdirektorin in Graz. Die Probe war gerade vorbei, und plötzlich ging es los: Das Theater wird gesperrt, alle Flüge gestrichen, und auch das Hotel, wo ich übernachtet habe, musste schließen… Aber ich sehe es immer in der Relation: Ich habe Beispiele von Menschen vor Augen, die jetzt ihre kranken Eltern nicht besuchen dürfen. Das ist wirklich hart. Schlimmer noch: Es ist wie im Krieg.

Wie gehen Sie mit dieser Situation um?

Ich arbeite - an den Projekten, die in der Zukunft, ab Herbst und später, auf dem Plan stehen und hoffentlich stattfinden werden. Etwa an der Uraufführung der Oper "Vasil Vyshyvaniy. König der Ukraine". Es handelt sich um einen brisanten historischen Stoff: Ein Habsburger, Erzherzog Wilhelm Franz Joseph Karl von Habsburg-Lothringen, kämpfte unter dem Pseudonym Vyshyvaniy in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts um die Unabhängigkeit der Ukraine - allerdings mit der Ambition, selbst König des Landes zu werden. Später wird er ein Opfer des Stalinismus. Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan schrieb ein spannendes Libretto, Alla Sagajkewitsch eine hochinteressante Musik. Die Premiere sollte Ende Mai in Charkiv stattfinden, nun ist sie auf Oktober verschoben.

Wilhelm von Habsburg-Lothringen
Wird zur Opernfigur: Wilhelm von Habsburg-LothringenBild: gemeinfrei

Einige der Experten haben die Hoffnung, dass durch die Corona-Pandemie unsere Welt eine bessere werden könnte, eine Welt, in der Verantwortung und Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielen werden. Können auch Sie der ganzen Situation etwas Positives abgewinnen?

Auf jeden Fall lernen wir hoffentlich, wie wertvoll die Kultur ist – und wie fragil. Kultur kann sich nicht wehren: Während Handel und Produktion langsam wieder anlaufen, werden Kulturveranstaltungen eine nach der anderen abgesagt, sogar so wichtige wie die Bayreuther Festspiele oder das Beethovenfest Bonn. Mal schauen, wie man das Ganze nun wieder auf die Beine bringen kann.

Lyniv beim Campus-Konzert der DW und des Beethovenfestes 2017
Oksana Lyniv beim Campus-Konzert der DW und des Beethovenfestes 2017Bild: DW/R. Oberhammer

Der Lockdown trifft die Kultur sehr hart: Alle Konzerte und fast alle Festivals sind europaweit ersatzlos ausgefallen, Menschen auf und hinter der Bühne fürchten um ihre Existenz. Sie auch? 

Ganz ehrlich: Ich bin momentan sehr enttäuscht. Zuvor hat man sich als Künstler nirgendwo so sicher gefühlt wie in Deutschland. Aber die jetzige Krise hat viele Fragen aufgeworfen: Plötzlich werden Kultur und Musik wie Waren behandelt - und zwar solche, die nicht lebensnotwendig sind. Die Kunst wird zur Unterhaltung herabgesetzt. Die Bevölkerung wird mit "Ersatzprodukten" wie Mitschnitten von alten Produktionen und Konzerten "notversorgt". Es wird über die neue Realität verhandelt, etwa über die Perspektiven für den Konzertbetrieb - und wir als Künstler sind an diesen Verhandlungen nicht einmal beteiligt.

Oksana Lyniv mit John Lundgreen und Nina Stemme
Oksana Lyniv (Mitte) mit John Lundgreen und Nina Stemme in Vor-Corona-ZeitenBild: Wilfried Hösl/Bayrische Staatsoper

Glauben Sie nicht, dass der eine oder andere in Politik und Gesellschaft in die Versuchung kommt, zu sagen: "Sieh mal, es geht auch ohne diese kostspielige Kultur und altmodische Einrichtungen wie Opern- und Konzerthäuser"?

Nein, das glaube ich nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass nach diesem musikfreien Sommer, der uns wohl bevorsteht, der Hunger nach Musik und Kultur erst recht aufkommt. Gerade jetzt merkt man, wie schrecklich es ist, wenn man plötzlich einfach eingesperrt wird. Das Gemeinsame, das Musik und Kultur allgemein stiften, ist das, was den Menschen heute am meisten fehlt.

Atemschutzmasken und das Einhalten von Abstandsregeln versprechen eine gewisse Perspektive bei der Wiederbelebung des öffentlichen Lebens. Ist das auch eine Perspektive für Kulturveranstaltungen?

Nein, nicht auf Dauer. Ohne unmittelbaren Körperkontakt geht es nicht – nicht im Orchestergraben und erst recht nicht auf der Bühne. Es muss erst die Normalität einkehren, dann kann man wieder gemeinsam musizieren. Natürlich kann man in der Zwischenzeit versuchen, über das Internet zu proben oder zu unterrichten, aber das ist keine Dauerlösung.

Dirigentin Oksana Lyniv
YSOU - Jugendorchester der Ukraine - bleibt eine Herzensangelegenheit von Oksana Lyniv, auch in Zeiten von CoronaBild: Serhiy Horobets

Corona hat auch die Ukraine weitgehend von der Welt abgeschottet und das Kulturleben des Landes stillgelegt – so wurde auch ihr Festival "LvivMozArt" in Lemberg abgesagt. Was ist das Besondere an den Auswirkungen der Pandemie in der Ukraine?

Mein Heimatland, die Ukraine, macht mir momentan sehr viele Sorgen - und das nicht nur hinsichtlich der Kultur. Die Corona-Maßnahmen treffen die Ärmsten. Drakonische Regelungen werden eingeführt, Geldstrafen von bis zu 1000 Euro werden erhoben, wenn man als Passant aufgegriffen wird - und das auch bei den Rentnern, die keine 100 Euro Monatsrente bekommen! Ich sehe die junge ukrainische Demokratie in Gefahr. Ganz zu schweigen davon, dass die Investitionen in die Kultur, die in der Ukraine sowieso nicht allzu üppig waren, nun fast gänzlich gestrichen werden.

Sie leiten auch das von Ihnen mitbegründete Jugendorchester der Ukraine. Das sind über 100 Jugendliche aus dem ganzen Land. Auch sie sind jetzt in Quarantäne. Welche Rückmeldungen bekommen Sie von ihnen?

Wir hatten kurz vor dem Ausbruch der Pandemie vorspielen lassen und wahnsinnig tolle neue Musiker gefunden. Mit ihnen hätten wir jetzt nach einer Arbeitsphase im Juni auf eine internationale Tournee gehen sollen, durch die Ukraine und ins Ausland. Diese jungen Musiker trifft die Krise natürlich gerade sehr hart. Aber sie üben fleißig, bleiben mit mir und untereinander im Kontakt und hoffen, dass die ausgefallenen Konzerte möglichst bald nachgeholt werden können, dass wir bald wieder unser Publikum sehen. Wir sind als Menschen und Künstler soziale Wesen, wir dürfen einen totalen Rückzug ins Private nicht zulassen.

Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.