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Die anderen großen Infektionskrankheiten nicht vergessen

12. Mai 2020

Das neuartige Coronavirus könnte indirekt noch viele Opfer mehr mit sich bringen. Denn die Bekämpfung der klassischen Infektionskrankheiten Masern, TBC, HIV und Malaria droht ins Hintertreffen zu geraten.

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Burundi - Gesundheitsstation in Rukogo: Babys werden geimpft
In Burundi werden Kinder gegen Tuberkulose geimpft - Seit dem Lockdown ist das schwieriger geworden. Bild: picture-alliance/dpa/T. Schulze

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist wichtig, darüber herrscht unter Medizinern Einigkeit. Aber es gibt auch noch andere sehr gefährliche Infektionskrankheiten, die wir bei der Corona-Bekämpfung nicht aus den Augen verlieren sollten – sonst droht vielleicht noch größeres Unheil.

Zum Beispiel in Afrika: Dort fürchtet die Weltgesundheitsorganisation, dass sich die Anzahl der Malaria-Opfer in diesem Jahr von 400.000 auf 800.000 verdoppeln könnte. So besteht das Risiko, dass etwa Medikamente und Moskitonetze die Betroffenen nicht erreichen – und das kurz vor der Regenzeit.

Anna Kühne, Epidemiological Advisor für Ärzte ohne Grenzen, Berlin
Dr. Anna Kühne betreut medizinische Projekte in Subsahara-Afrika. Bild: MSF

Ein Anstieg von unbehandelten Krankheiten wie Malaria sei möglich, wenn ihre Bekämpfung vernachlässigt wird, fürchtet auch Dr. Anna Kühne. Sie ist für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen  für verschiedene Hilfsprojekte in Afrika zuständig. Es sei eine sehr viel größere logistische Herausforderung geworden, Waren und Medikamente in die jeweiligen Länder zu bringen. "Das liegt an den Einschränkungen des Flugverkehrs, es liegt aber auch an Grenzschließungen. Und wir müssen in der Zukunft mit noch größeren Schwierigkeiten rechnen, um die medizinischen Programme aufrechtzuerhalten. Man sieht schon jetzt, dass einige Organisationen gezwungen sind, ihre Aktivitäten zu verringern." 

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Malaria ist dabei nur eine der hochgefährlichen Krankheiten, die derzeit wieder im Kommen sind. "Wir haben in unserem Projekt in der Zentralafrikanischen Republik jede Woche mehr als 100 Kinder im Krankenhaus aufgrund von schweren Maserninfektionen", sagt Kühne. Auch im Tschad grassieren die Masern. Am schlimmsten sei es aber in der Demokratischen Republik Kongo. "Viele der Masern-Impfkampagnen sind derzeit aufgrund der COVID-19 -Pandemie verschoben," berichtet die Ärztin.

Der Lockdown verschärft die Hungersnot

Hinzu kommt die Angst vor einer Hungersnot, ausgelöst durch eine Heuschreckenplage, die seit letztem Jahr das südliche und östliche Afrika heimsucht. Derzeit wird eine zweite Welle der gefräßigen Insekten erwartet. Das Welternährungsprogramm hat bereits gewarnt, dass dadurch bis zum Ende des Jahres mehr als 260 Millionen Menschen in Afrika vom Hungertod bedroht sein könnten.

Schon jetzt ziehen die Lebensmittelpreise in vielen Ländern heftig an. Der Lockdown und Grenzschließungen verschlimmern die Lage, weil Waren die Märkte nicht mehr erreichen und die Menschen nicht arbeiten können. All das wirkt sich auch auf das Gesundheitssystem aus.

"Wir versuchen in unseren Programmen, die medizinische Versorgung für all die bereits bestehenden Probleme so weit wie möglich aufrecht zu erhalten," sagt Kühne. "Aber viele Aktivitäten von Internationalen Organisationen, aber auch von kleinen NGOs fokussieren sich gerade auf COVID-19, weil man sich darauf auch vorbereiten muss. Gelder werden umgewidmet. Viele Routine-Programme werden angehalten, weil die Kapazitäten nicht da sind, sie weiterzuführen und sich gleichzeitig auf COVID-19 vorzubereiten." 

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Südafrika, Tuberkulose-Behandlung
Medikamentenausgabe in Südafrika. Heute lautet die Devise: Bevorraten und Beratung per Videochat. Bild: Getty Images/M. Safodien

HIV und TBC - zwei tödliche Erreger im Tandem

Zwei andere tödliche Erreger sind das HI-Virus und die Tuberkulose. Viele Betroffene tragen beide Keime in sich. Um sie zu bekämpfen, betreibt "Ärzte ohne Grenzen" ein Projekt in Eswatini, dem ehemaligen Swasiland. "Dort haben etwa ein Drittel der Erwachsenen HIV und es gibt auch sehr viele Tuberkulosefälle", berichtet Kühne. "Da werden zum Beispiel die Programme so umgestellt, dass die Tuberkulosepatienten jetzt nicht mehr täglich besucht werden, um sie bei der Einnahme der Medikamente zu unterstützen, sondern dass das per Video passiert. Es wird außerdem versucht zu erreichen, dass die HIV- und TBC-Patienten weniger in die medizinischen Einrichtungen kommen müssen."

Also geben die Ärzte ihren Patienten für längere Zeit Vorräte an Medikamenten mit. Das verringert die Gefahr, dass sie sich im Krankenhaus oder auf dem Weg dorthin anstecken. "Wir sehen aber auch, dass weniger Menschen für HIV-Tests und für den Beginn einer Behandlung zu uns kommen. So können wir weniger Menschen eine HIV-Therapie ermöglichen", so die Medizinerin Kühne. 

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Dr. Masoud Dara Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation WHO
Dr. Masoud Dara ist bei der WHO verantwortlich für die HIV und Tuberkulosebekämpfung in Europa und Zentralasien. Bild: WHO/Erik Luntang

Auch in Europa und Zentralasien drohen schwere Rückschläge beim Kampf gegen Tuberkulose und HIV. "Wir hatten große Fortschritte in den letzten Jahren gemacht", berichtet Dr. Masoud Dara. Der Arzt ist bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa und Zentralasien zuständig.

Europa war die Weltregion, in der die Tuberkulose zuletzt am stärksten zurückgegangen war, mit etwa fünf Prozent weniger Erkrankten pro Jahr. Die Todesraten waren noch deutlicher gefallen, um die zehn Prozent pro Jahr. "Nun drohen all diese Fortschritte zunichte gemacht zu werden," bedauert der Arzt. 

Rückkehr der Tuberkulose

Ähnlich wie in Afrika haben die Patienten nun keine Möglichkeit, ihre Ärzte aufzusuchen. Sie müssen zuhause bleiben. Auch dort werden sie nach Möglichkeit per Videokonferenz über das Mobiltelefon beraten. "Viele der Tuberkulose-Einrichtungen bereiten sich jetzt auf die Behandlung von COVID-19 Patienten vor", erläutert Dara.  

Das sei auch vernünftig, weil diese Einrichtungen sehr gut eingerichtet sind, um weitere Infektionen zu vermeiden. Andererseits bedeute dies, dass die Tuberkulosebehandlungen aufgeschoben werden. "Auch die ambulanten Dienste, die Patienten zuhause unterstützen, sind wegen der Ausgangssperren betroffen," so der Arzt.

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Testkapazitäten werden umgewidmet

Ein weiterer Bereich, in dem  es knapp werden könnte, sind die Testmöglichkeiten. So halten viele Testlabore, die bisher auf TBC und HIV getestet haben, gegenwärtig Kapazitäten für COVID-19-Tests bereit.

Besonders gefährlich: In einigen europäischen Ländern tragen mittlerweile die Hälfte der Patienten antibiotikaresistente TBC-Keime in sich. Diese lassen sich nur durch Gentests (sogenannte PCR-Tests) eindeutig identifizieren. Und auch bei HIV wird schon jetzt viel zu selten getestet: Etwa die Hälfte der Patienten erhält die Diagnose erst in einer späten Phase der Infektion, wenn die AIDS-Krankheit schon kurz vor dem Ausbruch steht. 

Doch der WHO-Experte Dara sieht trotz aller Schwierigkeiten auch eine große Chance in der zusätzlichen Anforderungen nach COVID-19-Tests. Das Testen auf Krankheitserreger könnte in Zukunft häufiger und systematischer erfolgen, Testanlagen rationaler eingesetzt werden, so Dara.

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Auch in der häuslichen Krankenpflege könnte die Corona-Erfahrung einiges voranbringen, hofft der WHO-Arzt. "COVID-19 kann auch eine Chance sein, mehr auf eine menschenbezogene Pflege zu setzen. Das heißt: weniger im Krankenhaus und mehr ambulante Betreuung", sagt Dara. Dafür brauche man aber Infrastrukturen. Man brauche Teams, um die Patienten zuhause zu besuchen, man brauche gute Unterstützungsmechanismen für sie.

Die für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" arbeitende Anna Kühne wirft ebenfalls gerne einen Blick nach vorne: "Wir versuchen, unsere Projekte weiterzuführen und die Mitarbeiter und Patienten so gut wie möglich vor COVID-19 zu schützen. Vor allem die Gruppen, die am verletzlichsten sind", sagt sie. "Es wird eine Riesenherausforderung werden. Wie schlimm die Epidemie in den afrikanischen Ländern werden wird, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht."

Wichtig ist ihr jedenfalls, dass die internationalen Hilfsorganisationen und Geldgeber jetzt nicht die anderen gefährlichen Krankheiten aus dem Blick verlieren. Und dass keine Konkurrenz um die Ressourcen für die Malaria-, TBC,- HIV- und Masernbekämpfung einerseits und COVID-19 andererseits aufkommt.

"Es ist wichtig, dass es extra Gelder für die Unterstützung von COVID-19 gibt. Es ist eine reale Gefahr in diesen Ländern und es braucht ohne Frage Gelder dafür", betont sie. "Nur sollten die nicht aus anderen Kampagnen kommen."

Die Weltgemeinschaft solle sich sowohl auf COVID-19 vorbereiten, als auch das bereits Erreichte aufrechterhalten, meint Kühne. "Dazu gehören auf jeden Fall die Masern, die in vielen Ländern gerade große Ausbrüche mit vielen Toten verursachen. Dazu gehört Malaria und HIV. Man darf nicht das Eine tun und dafür das Andere lassen. Man muss es beides tun," sagt Kühne. 

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