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Politik

Streit um den "Sturm" auf den Reichstag

7. September 2020

Welche Fotos, welche Filmsequenzen, welche Worte sind passend, um über Rechtsextremisten zu berichten? Zugegeben: schwere Frage! Marcel Fürstenau warnt aber davor, freiwillig zu viel auf den Index zu setzen.

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Berlin | Demonstration gegen Corona Maßnahmen am Reichstagsgebäude
Demonstranten schwenken Fahnen auf der Treppe des Reichstagsgebäudes, als endlich Polizei in größerer Zahl anrücktBild: Reuters/C. Mang

"Sturm auf den Reichstag" - mit diesen Worten berichteten vor einer Woche viele Medien über das, was sich während der Proteste gegen die Corona-Politik in Berlin abspielte. Auch die Deutsche Welle. Was war geschehen? Eine bunt gemischte, teils aggressiv anmutende Gruppe von Demonstranten verschaffte sich Zugang zur Treppe, die in den Reichstag führt. Sie schwenkte Fahnen unterschiedlichster Couleur: Schwarz-Rot-Gold (Bundesrepublik Deutschland), Weiß-Blau-Rot (Russland), Stars & Stripes (USA), Schwarz-Weiß-Rot (Deutsches Reich). Auch die Regenbogenfahne war zu sehen, Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung.

Waren das alles Rechtsextremisten? Natürlich nicht. Es waren auch Rechtsextremisten dabei. Die tragen ihre Gesinnung besonders gerne mit der Reichsflagge zur Schau. Wie groß ihr Anteil unter den Demonstranten an diesem symbolisch so aufgeladenem Ort war, kann niemand seriös beziffern. Halbwegs solide lässt sich bestenfalls die Zahl der Leute schätzen, die sich an der Aktion beteiligte. Ob es 200 waren oder 300, vielleicht 400, ist ein zu vernachlässigendes Detail.

Framing der Rechten? Man kann es auch übertreiben

Entscheidend ist und bleibt: Drei einsame Polizisten standen einer Menschenmenge gegenüber, der sie hoffnungslos unterlegen waren und deren Absichten sie zunächst nicht einschätzen konnten. Aus ihrer Perspektive stürmte eine Gruppe auf sie zu, um womöglich in das Reichstagsgebäude einzudringen. "Sturm auf den Reichstag" ist also eine zutreffende Beschreibung dessen, was sich da ereignete. 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel FürstenauBild: DW

Manche Medien-Kritiker, darunter auch Journalisten, lehnen diese Wortwahl trotzdem strikt ab. Begründung: Damit werde das "Framing", also das Deutungsmuster der Rechten übernommen. Die hätten schließlich schon lange vor den Protesten gegen die deutsche Corona-Politik auf einschlägigen Internetseiten und in Messenger-Diensten zum "Sturm auf Berlin" aufgerufen. Ja, das stimmt. Aber deshalb unter allen Umständen die Formulierung "Sturm auf den Reichstag" vermeiden?

Wer den Sturm leugnet, ignoriert die Fakten 

Denn der Sturm hat doch nachweislich stattgefunden. Zwar ging keine Scheibe zu Bruch, keine Tür wurde aufgebrochen und wichtiger noch: Niemand wurde verletzt. Das ändert aber nichts daran, dass eine unübersichtliche Meute Richtung Reichstag stürmte - aber zum Glück nicht weiter als bis auf die Treppe kam. Ob die Demonstranten überhaupt in den Sitz des Bundestages eindringen wollten, ist keineswegs sicher. Die Bilder, so unschön sie waren, erinnerten eher an Szenen, die sich oft in Kaufhäusern abspielen, wenn im Schlussverkauf kräftig mit billigen Preisen geworben wird: Auch dann stürmen Schnäppchen-Jäger an Tische und Regale in der Hoffnung, schneller als alle anderen zu sein. 

Beim "Sturm" auf den Reichstag ging es vielen anscheinend darum, unter den Ersten zu sein, um mit Fahnen und Transparenten ihren wie auch immer gearteten Protest vor symbolischer Kulisse zu zelebrieren. Frage an die Gegner des Wortes "Sturm" in diesem Zusammenhang: Wie soll man die in etlichen Video-Sequenzen im Netz dokumentierte Aktion denn sonst passend benennen? Attacke? Angriff? Sind diese Wörter weniger martialisch oder besser geeignet? Und gehören sie spätestens dann auf den Index, wenn Rechte sie verwenden? Nein!

Brutal und gewalttätig war es vor der Russischen Botschaft

"Sturm" ist eine allgemein verständliche, umgangssprachliche Bezeichnung, die den Kern trifft. Dass man damit gedankenlos das Geschäft der Rechten besorge, ist ein weit hergeholter, konstruierter und fast schon lächerlicher Vorwurf.

Und bitte nicht vergessen: Der "Sturm auf den Reichstag" ist glimpflich abgelaufen. Das sah am selben Tag bei derselben Demo vor der Russischen Botschaft schon viel gefährlicher und bedrohlicher aus. Und war es auch. Doch die Symbolkraft des Reichstags ist natürlich eine ganz andere. Im Februar 1933 brannte er. Die Nazis nutzten die nie restlos aufgeklärte Brandstiftung, um der Parlamentarischen Demokratie den Todesstoß zu versetzen.

Deutschland Bundespräsident Steinmeier Meets empfängt Polizisten die Stürmung des Reichstags verhinderten
Der Bundespräsident empfing die drei Polizeibeamten, die den Demonstranten zunächst allein gegenüber standenBild: Getty Images/M. Hitij

Deshalb sind Reichsflaggen auf den Stufen des Reichstags 75 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus eine Zumutung für alle Demokraten und friedliebenden Menschen. Aber man muss deshalb nicht so weit gehen, das Wort "Sturm" im Zusammenhang mit dem Reichstag zu einer Gefahr zu stilisieren. Das wäre eine Vorstufe zur Selbstzensur, die den Rechten gefallen würde.

Wer sich am Wort "Sturm" stört, sollte auch keine Reichsflagge abbilden

Also: Bloß keine sprachlichen Verrenkungen vor lauter Angst, den neuen Nazis auf den Leim zu gehen. Wer das beanstandete Wort trotzdem unbedingt vermeiden will, möge es tun. Dann aber bitte konsequent sein und auch keine Fotos und Videos von dem Ereignis auf der Treppe des Reichstags zeigen. Denn damit wird doch in der Logik der Sturm-Gegner das Framing der Rechten übernommen. Gerade das aber taten auch Medien, die das Wort "Sturm" im Zusammenhang mit dem Reichstag für ein Unwort halten. Dabei haben sie außerdem etwas anderes völlig vergessen: dass Bilder viel emotionaler und symbolträchtiger sind als noch so starke Worte.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte – Schwerpunkt: Deutschland