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Politik

Wissen die jungen Thais, was sie tun?

24. Oktober 2020

Unter Militärs und Anhängern des Königs ist die Vorstellung verbreitet, dass die Demonstranten auf den Straßen keine "echten" Thais seien. Das Ausland habe sie auf den falschen Weg gebracht.

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Thailand Bangkok | Pro-Democracy Proteste
Bild: Jorge Silva/Reuters

In Thailand ist eine Krankheit ausgebrochen, erklärte Apirat Kongsompong, Oberbefehlshaber der Königlich Thailändischen Armee bei einer Rede vor Kadetten im August. Die Proteste in Thailand waren zu jenem Zeitpunkt bereits voll im Gange. Der Name der Krankheit: Hass auf die Nation. Diese Krankheit sei viel schlimmer als COVID-19, so der General, denn sie sei unheilbar.

Dieser Vorwurf steht im Kontext einer Bildungskampagne der Militärregierung, die 2014 mit einem Putsch an die Macht kam. Der Ex-General und amtierende Premierminister Prayuth Chan Ocha rief kurz nach der Machtergreifung dazu auf, "Thainess" ins Zentrum der Bildung junger Thais zu stellen. "Thainess" soll die Essenz dessen beschreiben, was es bedeutet, Thai zu sein. Sie betont die Einzigartigkeit der thailändischen Kultur und die Unterlegenheit anderer Kulturen. "Thainess" ist eng verknüpft mit Buddhismus und Monarchie. Dieser Vorstellung zufolge kann es ein Thailand ohne König nicht geben. 

"Thainess" zum Erhalt des status quo

Der Soziologe Omsin Jatuporn von der Chiang Mai-Universität in Thailand sieht die Bildungsinitiative der Militärs in einem Aufsatz kritisch: Diese Politik habe das Ziel eine Ideologie zu fördern, die "den status quo für die Eliten und deren privilegierte Position in der Gesellschaft erhält." Es handele sich um den Versuch, die Bevölkerung zu kontrollieren. Im Übrigen blende die Vorstellung der Generäle von "Thainess" aus, dass es in einer globalisierten und diversen Welt keine "reine Thainess" geben kann.

Der Konflikt zwischen konservativen Vorstellungen von "Thainess" und dem Wunsch vieler junger Thais, internationalen Moden zu folgen, brach exemplarisch aus, als im Juni die Schülerinnen und Schüler Thailands nicht akzeptieren wollten, dass ihnen vorgeschrieben wird, wie sie ihre Haare zu tragen haben. Es kam zu Protesten gegen die demütigenden öffentlichen Zwangshaarschnitte durch die Schulbehörden. 

Was bedeutet es, Thai zu sein?

Die Auseinandersetzung um die Frisur ist nur ein Baustein, um die aktuellen Proteste zu verstehen. Doch die inzwischen erhobene Forderung der überwiegend jungen Demonstranten nach einer Reform der Monarchie ist ein Angriff auf "Thainess", wie sie das Militär propagiert. Es geht folglich auch um die Frage der Identität. Was bedeutet es 2020 eine Thai, ein Thai zu sein? Kann man Thai sein und die Monarchie ablehnen?

Der heutige Premierminister Prayuth und Mitglieder des Königsrats werfen sich 2016 vor dem neuen König Vajiralongkorn nieder
Der heutige Premierminister Prayuth (links Mitte) und Mitglieder des Königsrats werfen sich 2016 vor dem neuen König Vajiralongkorn nieder. Traditionalisten wollen die hierarchische Kultur Thailands nicht antastenBild: Getty Images/AFP/Thai TV Pool

Die konservativen Eliten wie der Oberbefehlshaber Apirat Kongsompong blocken die Antworten der jungen Demonstranten ab, indem sie die Demonstranten pathologisieren. Es handele sich um unheilbar Kranke, um Verrückte.

Die Schuld des Auslands

Eine andere Strategie der Abwehr ist die Behauptung, dass die Proteste aus dem Ausland gesteuert seien, dass die überwiegend jungen Demonstranten nicht wüssten, was sie tun.

In den thailändischen sozialen Medien kursiert sei einem Jahr eine Grafik, die die vermeintliche Beeinflussung durch externe Kräfte belegen soll (die DW zeigt die Grafik nicht, um die Verschwörungstheorie nicht weiter zu verbreiten). In einem kruden Mix tauchen die üblichen Verdächtigen auf: George Soros‘ Open Society Foundation, die Bild-Zeitung, die kritisch über den König in Deutschland berichtet hat, Netflix, die Heinrich-Böll-  sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung, der Hongkonger Aktivist Joshua Wong  und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch. Die Grafik suggeriert ein Netzwerk all dieser Organisationen und Personen, die die Studenten in Thailand auf die Straße getrieben hätten. Die US-Botschaft in Thailand sah sich im September sogar gezwungen, ein offizielle Stellungnahme abzugeben, in der es hieß: "Die Regierung der Vereinigten Staaten finanziert oder unterstützt keinen der Proteste in Thailand."

Tausende Demonstranten versammeln sich in der Nähe des Demokratie-Denkmals in Bangkok
Die überwiegend jungen Demonstranten fordern Respekt für ihre Sicht der DingeBild: Lauren DeCicca/Getty Images

Diese Art Schuldzuweisungen, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Forderungen der Demonstranten überflüssig macht, findet seit Jahren immer mehr Anklang, wie Thomas Carothers and Richard Youngs in einer Studie für "The Carnegie Endowment" bereits 2015 feststellten: "Ein auffallendes Element der Reaktionen auf die jüngsten Proteste ist die Häufigkeit und Regelmäßigkeit, mit der die Führer des Landes Ausländer für die Proteste verantwortlich machen. Dies spiegelt neben anderen Faktoren die Unfähigkeit der 'Führer' wider, zu glauben, dass es in ihren Ländern echte zivilgesellschaftliche Sektoren mit legitimen, unabhängigen Stimmen gibt."

Eigene Stimme

Die DW sprach mit verschiedenen thailändischen Aktivisten und Demonstranten über diesen Vorwurf. Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass die Forderungen der Demonstranten auch von Ideen und Diskussionen in anderen Ländern inspiriert werden. Die Parallelen, welche die Organisation und Form der Proteste in Thailand mit denjenigen in Hongkong aufweisen, ist offensichtlich. In einer vernetzten globalisierten Welt kann es gar nicht anders sein. 

Es ärgert die thailändischen Demonstranten aber, dass man ihnen die Fähigkeit abspricht, eigene Urteile zu fällen. Ploy* sagt zu den Vorwürfen: "Das sind absurde, aber vorhersehbare Anschuldigung der Gelbhemden [Royalisten, Anm. d Red.]. Ich denke, es ist an der Zeit diese Verschwörungstheorien zu überwinden. Immer sind es irgendwelche anderen, die hinter den Protesten stehen und die Stabilität Thailands stören. Niemand muss sich einmischen, da unsere Politik bereits instabil ist." Die 28-jährige Kaew* fügt hinzu: "Seit letzter Woche bin ich fast täglich bei den Protesten dabei, weil ich mir eine gleichberechtigte Gesellschaft in Thailand wünsche. Wir gehen, weil wir es wollen, nicht, weil man es uns gesagt hat."

Kritik aus den eigenen Reihen

Ein offener Brief thailändischer Studenten von den Universitäten Oxford und Cambridge vom 19. Oktober - dem Tag der Verhängung des seit gestern wieder aufgehobenen Ausnahmezustands in Bangkok - kann als weiteres Beispiel dafür dienen, dass junge Thais kritisch und unabhängig sind. Absolventen dieser renommierten Universitäten genießen in Thailand einen besonderen Status. Viele einflussreiche Persönlichkeiten der thailändischen Geschichte haben in Oxford oder Cambridge studiert. So zum Beispiel König Rama VI (Oxford) und die ehemaligen Premierminister Anand Panyarachun (Cambridge) und Abhisit Vejjajiva (Oxford).

Offener Brief von thailändischen Studenten der Universitäten Oxford und Cambridge
Ausschnitt (in Englisch) des offenen Briefes an die thailändische Regierung. Er wurde von mehr als 100 Thais unterzeichnet

Die Studenten geben sich im Gespräch mit der Deutschen Welle selbstbewusst und bezeichnen sich selbst als privilegiert. Sie sind überzeugt, dass sie in der Zukunft des Landes eine wichtige Rolle spielen werden. Sie machen sich in ihrem offenen Brief nicht die Position der studentischen Demonstranten in Thailand zu eigen, die eine Reform der Monarchie fordern, kritisieren aber zugleich die Regierung. Sie machen sich stark für Meinungsfreiheit und fordern unter anderem ein Ende des Ausnahmezustands, die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten und eine offene und faire Debatte über eine neue Verfassung. 

Sie sehen es als ihre Pflicht an, sich einzuschalten und zu zeigen, dass sie als Teil der Elite die Maßnahmen der Regierung nicht einfach schweigend mittragen, sondern für eine gewaltfreie und offene Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes eintreten. Auf Nachfrage der DW versicherten sie, das schließe auch eine Diskussion über den Status der Monarchie ein.

Unter Mitarbeit von Emmy Sasipornkarn.

*Die Namen wurden zum Schutz der Interviewpartner geändert.

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia