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Gesellschaft

Russland: Coronavirus und Wehrpflicht

Sergey Satanovskiy | (Adapt.:Markian Ostaptschuk)
29. November 2020

Russlands Verteidigungsministerium versichert, genug für den Schutz Wehrpflichtiger zu tun. Doch Dienst und Unterbringung stellen ein erhöhtes Corona-Infektionsrisiko dar. Es gibt Klagen von Rekruten und ihren Eltern.

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Russische Wehrpflichtige in einem Speisesaal
Russische Wehrpflichtige in einem SpeisesaalBild: picture-alliance/dpa

Trotz der Coronavirus-Pandemie sollen auch in diesem Jahr in Russland tausende Rekruten einberufen werden: Bis Ende 2020 soll es 263.000 Wehrpflichtige geben. Die Gesamtstärke der russischen Armee beträgt etwa eine Million Mann. Unterdessen meldet das Verteidigungsministerium täglich, wie viele Militärangehörige am Coronavirus erkrankt und wie viele wieder genesen sind. Seit März gab es bisher rund 4500 Infizierte. Dem Verteidigungsministerium zufolge nimmt diese Zahl jedoch seit zehn Tagen täglich um etwa 260 Personen zu.

Während der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 war die Einberufung Wehrpflichtiger für anderthalb Monate ausgesetzt worden. Danach mussten 135.000 junge Männer nicht wie sonst innerhalb von dreieinhalb Monaten, sondern in nur zwei Monaten medizinisch untersucht und auf die Truppen verteilt werden.

Gebäude des russischen Verteidigungsministeriums
Das russische Verteidigungsministerium hält an den Einberufungsplänen für das Militär festBild: DW/E. Samedova

"Dass die Einberufungs-Pläne damals nicht gekürzt wurden, hat im Frühjahr zu ernsthaften Problemen geführt - und das wird auch jetzt wieder passieren", befürchtet Alexander Gorbatschow, Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation "Soldatenmütter von St. Petersburg".

Bei der NGO gehen viele Beschwerden ein, die sich auf Verstöße in den Einberufungsämtern beziehen. Bei den meisten geht es um Vernachlässigung hygienischer und epidemiologischer Vorgaben. Es gebe aber auch Hinweise darauf, dass Rechte von Wehrpflichtigen verletzt werden.

Klage gegen Einberufungsamt

Auch der 25-jährige Iwan (Name geändert) hat sich an die "Soldatenmütter von St. Petersburg" gewandt. Er klagt seit Jahren über Herz-Kreislauf-Probleme und Ohnmachtsanfälle. Mehrere Jahre lang sei er immer wieder zur medizinischen Untersuchung zum Einberufungsamt zitiert worden. Jedes Mal habe er seinen Gesundheitszustand dargelegt, und jedes Mal sei er darauf hingewiesen worden, wiederkommen zu müssen, bis er 27 Jahre alt sei. Beim letzten Mal, im Sommer dieses Jahres, habe er einen psychologischen Test ablegen müssen. Daraufhin habe ihm die Militär-Ärztin eine "kognitive Störung" bescheinigt und ihm erklärt, "mit einem solchen Ergebnis" könne niemand zur Armee.

"Trotzdem riefen sie mich ein paar Tage später an und sagten, ich sei tauglich und müsse meinen Dienst antreten", so Iwan. Er zog gegen diese Entscheidung des Amtes vor Gericht. Die Prüfung der Beschwerde läuft noch. Dass nun auch Männer einberufen werden, die jahrelang als untauglich eingestuft wurden, hängt möglicherweise auch mit der COVID-19-Pandemie zusammen. Denn viele Wehrpflichtige wie auch Beschäftigte der Einberufungsämter sind an COVID-19 erkrankt. Dennoch soll das diesjährige Plansoll offenbar erfüllt werden.

Einschränkung der Rechte Wehrpflichtiger

Anna (Name wurde geändert) aus Wsewoloschsk bei St. Petersburg durfte als Vertreterin ihres Sohnes das Einberufungsamt nicht betreten - aufgrund der dort geltenden Coronavirus-Einschränkungen. Gleichzeitig würden sich aber, so die Frau, die zur Musterung einberufenen jungen Männer "wie in einer Sardinenbüchse drängen".

Wehrpflichtige in St. Petersburg warten auf eine ärztliche Untersuchung (Archivbild)
Wehrpflichtige in St. Petersburg warten auf eine ärztliche UntersuchungBild: Soldatenmütter von St. Petersburg

Anna hat die Sorge, dass Einberufungsämter auf diese Wiese gar das Coronavirus ausnutzen könnten, um die Rechte der Wehrpflichtigen einzuschränken. Sie befürchtet, dass die Mitarbeiter des Amts in ihrer Abwesenheit die Originale der medizinischen Unterlagen "versehentlich verlieren" könnten, aus denen hervorgeht, dass ihr Sohn nicht zum Wehrdienst muss.

Derartige Tricks wenden die Ämter meist in Großstädten an, berichtet Alexander Gorbatschow. Auf dem Lande bestehe dazu normalerweise keine Notwendigkeit. "Man muss wissen, dass in vielen Regionen Russlands junge Menschen begeistert zur Armee gehen. Außerdem sind die Menschen in Moskau und St. Petersburg juristisch versierter als auf dem Lande", so Gorbatschow.

Auswirkungen auf den Dienst von Soldaten

Für einige Wehrpflichtige sei der Dienst aufgrund der Coronavirus-Pandemie sogar etwas leichter geworden, meint der politische Aktivist Pawel Krysewitsch. Er wurde 2019 in die Armee eingezogen und beendete im Frühjahr - mitten in der ersten Welle der Pandemie - seinen Dienst. "In den Monaten April und Mai finden normalerweise die meisten Sportveranstaltungen statt, und ich war in einer Einheit für Armeesport tätig. Aber wegen des Coronavirus wurde alles abgesagt, und an den Wochenenden durften wir Soldaten in der Regel ausschlafen", erinnert sich Krysewitsch.

Russland: Impfstoff als Prestigeprojekt

Die Kompanien, die für die medizinische Versorgung und chemische Desinfektion zuständig seien, hätten hingegen mehr zu tun, so der Aktivist. Sie würden die Körpertemperatur ihrer Kollegen messen und Kranke in Feldlazarette schicken. Andere würden in Schutzanzügen Oberflächen mit chemischen Mitteln reinigen.

Doch die "Soldatenmütter von St. Petersburg" sind der Ansicht, dass die Maßnahmen des russischen Militärs zur Bekämpfung des Coronavirus sowohl unzureichend als auch ineffektiv sind. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht über die Rekrutierung im Frühjahr empfiehlt die Menschenrechtsorganisation, die Maßnahmen zur Einberufung Wehrpflichtiger einzuschränken und die Anzahl der Einzuberufenden während der Ausbreitung des Coronavirus zu reduzieren.