Wir müssen dahin gehen, wo es weh tut | Presse | DW | 16.12.2020
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Presse

Wir müssen dahin gehen, wo es weh tut

In den USA ist zu erleben, was passiert, wenn eine Gesellschaft keine Räume mehr hat, um unterschiedliche Positionen zu diskutieren: Sie zerfrisst sich von innen. Ein Kommentar über die Mitverantwortung der Medien.

Gibt es neutralen Journalismus? Ich behaupte: nein, den gibt es nicht. Denn jede Reporterin, jeder Redakteur bringt seine individuelle Perspektive mit. Jede individuelle Weltsicht ist davon geprägt, was man erlebt hat. Es macht einen Unterschied, ob ich als Arbeiterkind in Südwestdeutschland geboren oder in einem Oberschichtenhaushalt in Indien groß geworden bin. Ob ich geflüchtet bin oder in einem Haus aufwuchs, das meine Großeltern selbst gebaut haben. Auch deshalb ist es übrigens so wichtig, dass unsere Redaktionen mit Menschen unterschiedlicher regionaler und sozialer Herkünfte besetzt sind.

Was es aber sehr wohl gibt, ist professionelles journalistisches Handwerk, das nach objektiver Berichterstattung strebt. Um unserer Aufgabe gerecht zu werden, müssen wir Fragen stellen, ohne die Antworten vorweg zu nehmen. Wir dürfen nicht aufhören, zuzuhören und versuchen zu verstehen. Und selbst wenn wir uns dazu zwingen müssen, müssen wir auch über Dinge berichten, die unserem Weltbild nicht entsprechen.

Als Journalistinnen und Journalisten müssen wir in Kauf nehmen, Applaus von einer Seite zu bekommen, die uns politisch sehr fremd ist. In diesem Sinne müssen wir dahin gehen, wo es weh tut, um der Welt gerecht zu werden.

Eine polarisierte Nation

Und genau das haben fast alle journalistischen Medienhäuser in den USA eingestellt. Die Vereinigten Staaten waren schon immer ein Land der Gegensätze. Eine polarisierte Nation. Es gibt nur zwei Parteien, die eine wirkliche Rolle spielen. Regierungen müssen keine Kompromisse suchen, um eine Regierungskoalition bilden zu können, entweder haben sie eine Mehrheit. Oder sie haben die Wahl verloren.

Dieses Lagerdenken spiegelt sich seit den Unabhängigkeitskriegen auch in den Medien. Schon die ersten regelmäßig erscheinenden Zeitungen im 18. Jahrhundert bezogen bei wichtigen politischen Entscheidungen klar Position. Wie in vielen anderen Ländern auch, sympathisieren Publikationen und später auch private TV-Sender mit gewissen politischen Richtungen. Entsprechend wird der Medienkonsum gewählt, man schaltet den Sender ein, klickt die Seite an oder schlägt die Zeitungsseite auf, mit der man sich politisch am ehesten zu Hause fühlt.

Fundamental anders sind nach vier Jahren Donald Trump zwei Dinge:

1. Die amerikanischen Medienhäuser haben es aufgegeben, nach einer objektiven politischen Berichterstattung zu streben und sind zu politischen Akteuren mutiert.

2. Die permanenten Behauptungen Trumps, Medienhäuser seien nichts als Lügenpresse, zeigen Wirkung: Noch nie war die Glaubwürdigkeit von Journalistinnen und Journalisten so gering. Und beide Punkte haben durchaus miteinander zu tun. Die Sozialen Medien wirken darüber hinaus als Verstärker.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es in den Vereinigten Staaten kaum mehr öffentliche Räume gibt, um kontrovers über politische Konzepte und Lösungsvorschläge zu diskutieren. Dieser Wahlkampf zeigte uns auf brutalste Weise, welche Auswirkungen das hat. Immer mehr Menschen vertrauen auf ihre eigenen kleinen Social-Media-Blasen, um mit Informationen versorgt zu werden.

Mit fatalen Folgen. Verschwörungstheoretikern und Demokratiefeinden sind Tür und Tor geöffnet. Die Medien haben ihre Rolle als glaubwürdiges Korrektiv durch ihre extreme Einseitigkeit selbst verspielt. Es sind die Algorithmen, die mit der Belohnung der lautesten und schrillsten und polarisierendsten Headline die Diskurse beider politischer Lager fest im Griff haben.

Rückzug in die Social-Media-Blase

Fakten, wissenschaftliche Erkenntnisse haben kaum mehr eine Chance, in die Blasen durchzudringen, die durch Donald Trumps Behauptungen infiltriert sind. Ich habe es in den vergangenen Monaten immer wieder selbst erlebt, mit welcher Überzeugungskraft Durchschnittsamerikaner behaupten, Hillary Clinton halte kleine Kinder im Keller versteckt und Covid-19 sei nichts anderes als der Versuch einer ominösen Gruppe, nicht weniger als die Weltherrschaft zu übernehmen. Auf der anderen politischen Seite stehen nicht selten selbstgefällige, gut situierte Städter, die keinerlei Bereitschaft zeigen, sich in die Gedankenwelt einer Familie zu begeben, die seit Generationen von Fabrikarbeitsplätzen abhängig ist, die lange abgewandert sind. Oder vom Kohleabbau, der keine Zukunft mehr hat.

Das macht Angst. Und es sollte Angst machen. Die USA sind aus vielen Gründen besonders anfällig auseinanderzubrechen. Das hat mit dem Bildungssystem zu tun, aber auch mit der demographischen Entwicklung. Die Tatsache, dass in zwei Jahrzehnten die weiße Dominanz – zumindest rein zahlenmäßig – endgültig vorbei ist, verunsichert, bringt den sicher geglaubten Boden ins Wanken und zeigt, wie tief rassistisch weite Teile dieses Landes weiterhin sind.

Die Menschen in den USA haben verlernt, über politische Argumente zu streiten und ziehen sich immer weiter in ihre Soziale-Medien-Blasen zurück. Aber diese Gefahr ist beileibe nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt.

Demokratien leben von Auseinandersetzung

Sie können nur unter bestimmten Voraussetzungen weiter existieren. Eine davon ist, dass Fakten eine Rolle spielen. Man kann nicht mehr diskutieren, wenn man mit der Antwort auf ein unliebsames Argument „Das sind Fake News!“ immer durchkommt.

Aber kann man diese Entwicklung überhaupt noch aufhalten? Ich weiß es nicht. Und wenn überhaupt, dann nur durch eine klare Schwerpunktsetzung in den Schulen. Kinder müssen lernen, mit Sozialen Medien umzugehen, müssen erkennen, was Propaganda ist, was Aktivismus. Welche Webseiten glaubwürdig sind. Und welche Gruppen eben nicht.

Und hier sind auch wir Medienschaffenden gefragt. Gerade wenn wir uns bewusst machen, dass es einen neutralen Journalismus nicht gibt, müssen wir nach Objektivität streben, um Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen und weiterhin relevante Akteure in einer Demokratie zu sein. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. 

US-Wahl 2020

Die DW begleitete die US-Präsidentschaftswahl mit acht Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort. Washington Bureau Chief Ines Pohl und ihr Team sprachen auf einem sechswöchigen Roadtrip von Küste zu Küste mit Menschen aller Wählergruppen und beleuchteten Kernthemen wie Rassismus, Arbeitslosigkeit, Umwelt und die Polizeireform. 

„Nach 7.000 Meilen von der Westküste zurück nach Washington waren die Tage unmittelbar vor der Wahl am 3. November Ende und Highlight unseres, Roadtrips to the White House’. Dank unserer gesammelten Erfahrungen konnten wir Korrespondentinnen und Korrespondenten nach Bekanntgabe des Wahlsiegers aus der Hauptstadt, aus Joe Bidens Wohnort Wilmington in Delaware sowie aus Philadelphia an diesem historischen Tag nicht nur die euphorische Stimmung auf den Straßen transportieren, sondern mit Analysen und Einschätzungen auf allen Kanälen unserem internationalen Publikum auch die Probleme erklären, vor denen die gespaltene US-amerikanische Gesellschaft und ihr künftiger Präsident Joe Biden mit seiner Vize Kamala Harris nun stehen.“

Ines Pohl ist seit Juli 2020 Bureau Chief des DW-Studios in Washington. Zuvor war sie von 2017 bis 2020 Chefredakteurin der DW. Während ihrer Amtszeit legte sie ein besonderes Augenmerk auf den Ausbau der Social-Media-Präsenz und exklusiver journalistischer Angebote in allen 30 Sendesprachen der DW. Ines Pohl kam 2015 als Washington-Korrespondentin zur DW. Als Journalistin ist sie besonders an Fragen der demokratischen Legitimität und der Gestaltung von gesellschaftlichen Übergängen interessiert. Pohl macht sich dafür stark, Soziale Netze zu nutzen, um Journalisten und Nutzende in Verbindung zu bringen. 

Twitter @inespohl

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