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Tango-Nuevo-Erfinder Astor Piazzolla zum 100.

Suzanne Cords
11. März 2021

Ein argentinisches Sprichwort lautet: "Alles ändert sich, nur der Tango nicht." Das stimmte nur solange, bis Astor Piazzolla den Tango revolutionierte.

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 Astor Piazzolla spielt Bandoneon
Astor Piazzolla war als Komponist und Bandoneonspieler ein Meister seines Fachs Bild: Hardy Schiffler/Jazz Archiv/picture-alliance

Selten sind der Name eines Komponisten und Musikers so eng mit einem Musikstil verbunden, wie der von Astor Piazzolla mit dem Tango. Dabei konnte er dieser Musik anfangs nur wenig abgewinnen, schlug sein Herz doch für den Jazz. Doch es sollte anders kommen.  

Immer nur Tango? Lieber Jazz!

Am 11. März 1921 erblickt Astor Pantaleón Piazzolla in dem Seebad Mar del Plata als Kind italienischer Einwanderer das Licht der Welt. Argentinien bringt der kleinen Familie nicht den erhofften Wohlstand, und so ist Astor gerade mal vier Jahre alt, da ziehen seine Eltern auf der Suche nach einem besseren Leben mit ihm weiter nach New York. Vater Vincente eröffnet dort einen Friseursalon; der Sohn begeistert sich mehr für Musik als Haare und lernte schon früh, Klavier zu spielen. Am liebsten Jazz und Stücke von Johann Sebastian Bach.

Der Tango ist trotzdem allzeit präsent, denn der heimwehkranke Vincente liebt den melancholischen Klang über alles." Mein Vater hörte ständig Tango und dachte wehmütig an Buenos Aires zurück, an seine Familie, seine Freunde - immer nur Tango, Tango", erinnert sich Astor Piazzolla später an die Jahre seiner Kindheit. Vincente schenkt seinem Sohn ein Bandoneon - und da Astor seinen Vater sehr liebt, übt der Achtjährige nicht nur fleißig Piano, sondern auch dieses Instrument. Doch der Tango-Funke springt nicht über - auch nicht, als er den Sänger Carlos Gardel, den Tango-Gott der 1930er Jahre, kennenlernt. 1935 übernimmt Astor nämlich in dem in den USA gedrehten Film "El día en que me quieras" (etwa: Der Tag, an dem du mich lieben wirst), die Rolle eines Zeitungsjungen.

Carlos Gardel
Tango-Legende Carlos Gardel beeindruckte den jungen Astor Piazzolla nicht allzu sehrBild: dapd

Tango: der Hauch des Verruchten

1937 kehrt die Familie Piazzolla nach Buenos Aires zurück. Und hier hat der Jazz-Fan Astor in Sachen Tango ein Schlüsselerlebnis, als er eine Aufführung des Ensembles Elvino Vardaro besucht: Die ungeliebte Musik wird auf der Bühne ganz anders interpretiert, als er es bis dato kennt. Der junge Mann fängt Feuer, ergattert einen Job im angesagten Tango-Orchester von Aníbal Troilo; doch es wird Jahre dauern, bis er seine eigene Tango-Stimme findet.

Astor Piazzolla hat zu dieser Zeit nämlich noch ganz andere Ziele. Er möchte klassischer Komponist werden und nimmt Unterricht bei Alberto Ginastera, einem der renommiertesten Komponisten seiner Zeit. Piazzolla schreibt Sinfonien, Orchester und Kammermusik und ja, nebenher auch einige Tangos. Aber sie sind nicht für die  Öffentlichkeit gedacht, denn in seiner Heimat haftet ihnen immer noch der Hauch des Verruchten an. Das liegt sicherlich am Geburtsorts des Tangos: dem alten Hafenviertel La Boca in Buenos Aires. Dieses Viertel war Ende des 19. Jahrhunderts Auffangbecken für Scharen von Einwanderern, die in der Stadt am Rio de la Plata ihr Glück suchten. Allzu oft um ihre Träume von Reichtum betrogen, flüchteten viele ins kriminelle Milieu, gaben sich dem Suff hin, dem Glücksspiel und der Prostitution - und der Tango spiegelte diese Welt wider. "Corazón, amor y sangre", Herz, Liebe und Blut, das war der Dreiklang der Einwandererseele, die nach einem Halt in der fremden neuen Welt suchte. In seiner Anfangszeit schämte sich die argentinische Elite für den "ach so obszönen" Tango aus den Gossen der Stadt. Lange hat es gedauert, bis er gesellschaftsfähig wurde. In Argentinien länger als anderswo.

Ein tanzendes Tango-Paar
Längst auf dem internationalen Parkett zu Hause: der ehemals verrufene TangoBild: Vladimir Vyatkin/Sputnik/dpa/picture alliance

Mme Boulanger und der wahre Piazzolla

Auch Piazzolla verbirgt zunächst seine musikalischen Ausflüge in die Welt des Tangos, als er 1954 ein Stipendium in Paris bekommt und bei der weltberühmten französischen Musiklehrerin Nadia Boulanger vorspricht. Beim Vorspielen will er mit klassischen Werken brillieren, doch sie findet seine Bemühungen am Klavier recht hölzern. Sie entdecke Strawinski, Bartók und andere in seinen Werken, stellt sie fest und ist wenig beeindruckt. Erst als er einen seiner Tangos in die Tasten haut, fallen die historischen Worte: "Das ist der wahre Piazzolla - verlasse ihn niemals." Boulanger habe ihm beigebracht, an sich zu glauben, erzählte Piazzolla später: "Ich hielt mich für Abschaum, weil ich Tango in Kabaretts spiele, aber sie machte mir klar, dass ich Stil hatte."

Komponistin Nadia Boulanger sitzt am Klavier und schaut in die Kamera
Musikpädagogin Nadia Boulanger zeigte dem jungen Astor Piazzolla seine wahre BestimmungBild: Murray Becker/AP Photo/picture alliance

Von diesem Augenblick an wirft Piazzolla alle Minderwertigkeitskomplexe in puncto Tangomusik über Bord. Zurück in der Heimat gründet er 1955 sein "Octeto Buenos Aires", samt bahnbrechender elektrischer Gitarre auf der Besetzungsliste - das hat es im Tango so nie zuvor gegeben. Piazzolla arbeitet wie besessen. Er will den Tango erneuern und ihn zeitgemäß präsentieren. Sein Tango sei nicht zum Tanzen, sondern zum Hören, verkündet er. Der experimentierfreudige Musiker garniert den Tango  mit Jazz- und Folkloreelementen, probiert sich an Zwölfton-Musik. Auch seine Liebe zur Klassik schimmerte dabei immer wieder durch.

Von Meisterwerken und Schmähungen

Die Tango-Puristen sind entsetzt. "Es kommen neue Präsidenten, neue Bischöfe und Fußballspieler, alles ist im Fluss, aber der Tango? Nein!  Diese Leute wollen ihn antiquiert, langweilig und immer gleich", schimpft der Geschmähte. Die Anfeindungen gegenüber seinem Tango Nuevo eskalieren derart, dass Piazzolla und seine Familie sich zeitweise in Buenos Aires kaum mehr auf die Straße wagen. Bei Konzert forderten das Publikum lautstark den "echten Tango" ein.

Doch einschüchtern lässt sich der Maestro nicht. Da der kommerzielle Erfolg sich aber nicht einstellen will, bricht er 1974 ins Land seiner Vorväter auf: nach Italien - und kehrt erst über zehn Jahre später wieder zurück. Er ist besessen vom Tango Nuevo, musiziert, komponiert und arbeitet mit Jazz- und Klassikmusikern gleichermaßen zusammen. Viele seiner Stücke gehören heute zum Standardrepertoire großer Orchester: Das herzzerreißende "Adios Nonino" - ein Abschiedslied - hat Piazzolla 1959 in nur 30 Minuten zu Papier gebracht, als er während einer Tournee vom Tod seines Vaters erfährt. 1974 schreibt er "Libertango", ein Stück, das Grace Jones unter dem Titel "I've seen that face before" acht Jahre später in die Pop-Charts katapultiert. "La muerte del angel", "Tristezas de un doble A" oder "Oblivion" sind weitere Meisterwerke des Tango Nuevo.

Astor Piazzolla & Milva 1986
Die italienische Sängerin Milva arbeitete eng mit Piazzolla zusammen Bild: picture-alliance/Bildarchiv

Späte Anerkennung in der Heimat

Unermüdlich ist der Komponist in seinem Schaffensdrang, bis er 1990 in Paris eine Hirnblutung erleidet. Der argentinische Staatspräsident Carlos Menem höchstpersönlich setzt sich für die Überführung des Kranken in seine Heimat ein. Denn dort hat man sich mittlerweile mit dem Erneuerer des Tango ausgesöhnt, mehr noch, er hat den Status eines Nationalhelden erreicht.

Am 4. Juli 1992 stirbt Piazzolla in Buenos Aires im Alter von 71 Jahren. Seinen Traum, eine Tango-Oper über die Entdeckung Amerikas zu schreiben, kann er nicht mehr verwirklichen. Aber er hinterlässt der Welt ein umfangreiches musikalisches Werk mit über 300 Tangos und 50 Film-Soundtracks. "Ich habe eine Vison", hat der Maestro mal gesagt. "Dass man mein Werk noch im Jahr 2020 hört und auch im Jahr 3000… Denn 1955 starb der alte Tango und ein neuer wurde geboren - und bei der Geburt war ich mit meinem Octeto Buenos Aires dabei."

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur