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GesellschaftEuropa

Italienische Paare verzögern Nachwuchs

14. März 2021

Die Geburtenrate in Italien gehörte schon vor Corona zu den niedrigsten in Europa. Jetzt ist sie vollends abgestürzt. Vergeht italienischen Paaren die Lust oder der Optimismus? Oder beides? Bernd Riegert aus Bergamo.

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Italien Geburten Corona
Vincenzo Augello (li.) und seine Verlobte Morena Di Paola: Den Wunsch nach Kindern haben die beiden aufgeschobenBild: Bernd Riegert/DW

Auf die Frage, ob und wie viele Kinder sie haben wollen, antworten Morena Di Paola und Vincenzo Augello wie aus der Pistole geschossen: "Zwei!". "Einen Jungen und ein Mädchen!", ergänzt Morena und lacht.

Nur wann die Kinder kommen sollen, ist offen. Sie halten schwer verliebt Händchen, als sie der DW auf ihrem Bett im neuen Schlafzimmer sitzend ein Interview geben. Die für den vergangenen Juli geplante Hochzeit mussten die 29 Jahre alte Apothekerin und der 30 Jahre alte Bankangestellte wegen Corona verschieben.

"Wir wollten mit 130 Gästen feiern. Das war wegen der Einschränkungen natürlich unmöglich. Wir wollen eine Hochzeit ohne Masken, eine die sicher für alle ist", erzählt Vincenzo.

Die Reihenfolge war für die beiden gläubigen Katholiken immer klar, erst heiraten, dann in ein eigenes Haus einziehen, dann Kinder. Ihr eigenes Häuschen haben sie gerade vor ein paar Tagen in Seriate bei Bergamo bezogen. Mit den Babies wollen die beiden aber erst einmal warten, bis sich die wirtschaftliche Lage entspannt und die Pandemie irgendwann vorbei ist.

Pandemie als Lust-Killer?

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Demografie-Expertin Prof. Giulia Rivellini: Reproduktionsrate sinkt in ItalienBild: Bernd Riegert/DW

Morena und Vincenzo sind typisch für viele junge Paare in Italien. Laut vorläufigen Statistiken ist die Geburtenrate in dem eigentlich als kinderfreundlich geltenden Land so niedrig wie nie zuvor. Im Dezember 2020, genau neun Monate nach dem ersten Lockdown, wurden in 15 ausgewählten italienischen Städten 21,6 Prozent weniger Babies geboren als im Jahr zuvor.

Das teilte die italienische Statistikbehörde ISTAT mit. Damit ist Italien höchstwahrscheinlich Schlusslicht in Europa. Außerdem sei die Zahl der Eheschließungen um die Hälfte gesunken, sagte ISTA-Direktor Gian Carlo Blangiardo.

"Wir müssen auch untersuchen, wie sich das Sexleben während der Pandemie verändert", sagt die Soziologin Giulia Rivellini zu den Auswirkungen von Corona. "Ich habe eine Studie gefunden, vom Kondomhersteller Durex, die besagt, dass das Verlangen und die sexuelle Aktivität während der Pandemie abnimmt." 

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Leerer Spielplatz, frustrierte Großeltern: Oft drängen Eltern ihre Kinder, Nachwuchs zu zeugenBild: Bernd Riegert/DW

Das könne stimmen, so die Soziologin, die an der Katholischen Universität von Mailand forscht. Paare würden wegen der Ausgangsbeschränkungen enger zusammenleben, mehr organisieren, diskutieren, wirtschaftliche Probleme haben. Der Wunsch, Kinder zu bekommen, sei aber nicht so sehr an das sexuelle Verlangen gekoppelt, sondern werde meistens an wirtschaftlichen Gegebenheiten orientiert, und das nicht erst seit Corona.

Von Baby-Boom keine Spur

"Ich glaube, dass italienische Paare sich erst einmal auf die wirtschaftliche Vernunft und nicht so sehr auf die Emotionen konzentrieren. Sie machen sich Sorgen, ob sie ein Kind groß ziehen können, und ihm alles bieten können, was es braucht."

Frauen würden in Norditalien oft erst mit 30 in die Reproduktionsphase eintreten. Der Trend zu weniger Kindern hält schon seit Jahrzehnten an, so Professorin Rivellini. Corona hat ihn möglicherweise verstärkt.

Vor 50 Jahren bekamen Italienerinnen im Schnitt noch fast 2,5 Kinder. Jetzt sind es nur noch 1,27. Arbeit und Familie seien für viele Italienerinnen schwer zu vereinbaren. Großeltern müssten wegen fehlender öffentlicher Angebote die Kinder betreuen. Der Haushalt bleibe meist an den Frauen hängen.

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Wegen Corona hat das Paar die Hochzeit verschoben: Erst die Ehe, dann wirtschaftliche Sicherheit, dann KinderBild: Bernd Riegert/DW

Morena Di Paola meint, dass Corona ihre Beziehung zu ihrem Vincenzo nicht verändert, höchstens noch gefestigt habe. "Wir sind schon zusammen seit wir 13 Jahre alt sind. Wir sind zusammen aufgewachsen und kennen uns sehr gut. Die Pandemie hat uns stärker gemacht und uns klar gemacht, warum wir auf jeden Fall heiraten wollen."

Aber den Kinderwunsch hätten sie erst einmal verschoben. Das neue Haus hat viel Geld gekostet und auch die Hochzeit werde nicht billig, gibt Vater in spe, Vincenzo, zu bedenken. Außerdem wollten sie ja auch noch als Hochzeitsreise eine Kreuzfahrt in der Karibik machen. Die Hochzeit sei für sie das wichtigste Fest im Leben.

Zuhause im Nest 

Junge Leute in Italien würden immer später einen eigenen Haushalt gründen und sich von den Eltern abnabeln, sagt die Soziologin Giulia Rivellini. "Die jungen Menschen schieben den Zeitpunkt, zu dem sie ihr Nest verlassen immer weiter hinaus", sagt sie. Dadurch verzögere sich ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit.

Rivellini: "Das verzögert natürlich auch den Zeitpunkt des Kinderkriegens. Hinzu kommen jetzt noch die Ängste, die die Pandemie auslöst." Etwa 75 Prozent ihrer Kolleginnen und Kollegen unter den Bevölkerungsforschern würden mit weiter sinkenden Geburtenraten durch Corona rechnen. Nur fünf Prozent sehen einen Aufschwung voraus.

Italien in der Krise - Land ohne Kinder

 

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Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union