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PolitikEuropa

Niederlande zwischen Wut und Lethargie

16. März 2021

Gewalttätige Jugendproteste gegen die Corona-Regeln schreckten im Winter die Niederlande auf. Während junge Wähler zwischen Auflehnung und Lethargie schwanken, gibt es bei der Mehrheit im Land keine Wechselstimmung.

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Niederlande I Proteste in Den Haag
Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Den HaagBild: Robin van Lonkhuijsen/ANP/picture alliance

Drei Tage lang probten niederländische Jugendliche Ende Januar den Aufstand, lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und ließen ihrer Wut gegen die Corona-Regeln vollen Lauf. War es die erste Ausgangssperre seit dem Zweiten Weltkrieg, die den Zorn der Randalierer zum Überkochen brachte? Oder war es eine tiefer liegende Unzufriedenheit?

Abgehängt und ausgeschlossen

"Viele junge Leute haben jede Perspektive verloren", sagt Studenten-Aktivist Rudy van de Beek. Er arbeit als Jugendhelfer im Drop-In-Center "Click Jongeren" im Zentrum von Den Haag, wo er und sein Team versuchen, Schul- und Studienabbrecher aufzufangen. "Es gibt kein normales Leben an den Unis, die Leute können ihre Freunde nicht sehen, sie verlieren die Motivation in den Online-Kursen. Wir sehen immer mehr Studienabbrecher." Die Pandemie fordere vor allem von den Jugendlichen einen hohen Preis.

Niederlande | Wahlen | Rudy van de Beek
Studentenaktivist Rudy van de Beek will junge Leute überzeugen, wählen zu gehen und sich politisch zu engagierenBild: Barbara Wesel/DW

Diesen Frust gibt es in vielen europäischen Ländern. In den Niederlanden kommt aber noch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber der Politik hinzu, sagt Jelle van Buuren. Der Sozialforscher von der Universität Leiden befasst sich mit Gewalt und Verschwörungstheorien und beobachtet die Corona-Unruhen schon seit längerem: "Dieser Hass wurde über Jahre durch eine Reihe von Missständen angeheizt. (...) Da köcheln allerhand soziale Probleme: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ungeregelte Arbeitsverträge, teure Wohnungen, Zuwanderungspolitik und Multi-Kulturalismus." Außerdem hätten fortgesetzte Einschnitte in das soziale Netz die Kluft zwischen Arm und Reich in der niederländischen Gesellschaft weiter vergrößert. 

Betroffen sind besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund, von denen viele glauben, niederländische Politik sei nicht ihr Ding. Jugendhelfer Rudy will sie dagegen ermutigen, sich politisch zu engagieren. Daher engagiert er sich bei "AfroNLstemt", eine Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Wähleranteil unter den Afro-Niederländer zu erhöhen. Man müsse aktiv werden, statt seinen Ärger durch Gewalt rauszulassen, sagt Rudy, der es geschafft hat, als erster Schwarzer zum Vorsitzenden der Studentenvereinigung an seiner Uni gewählt zu werden. Aber im größeren Rahmen fehle es einfach an Vorbildern: "Im niederländischen Parlament gibt es keinen einzigen Abgeordneten der uns vertritt, dessen Familie aus Surinam oder der Karibik stammt."

Niederlande | Wahlen | Wahlwerbung am Binnenhof
Rechtspopulist Geert Wilders hält sich seit langem auf Platz 2 der Parteienliste Bild: Barbara Wesel/DW

Und einfach wird dieser Wandel nicht, denn es gibt steten politischen Gegenwind. Zwei Jahrzehnte lang malten Rechtspopulisten, von Pim Fortuyn über Geert Wilders bis zuletzt Thierry Baudet, ein negatives Bild von Migranten, die angeblich Kriminalität verbreiten, von Sozialhilfe lebten und sich nicht anpassen wollten. Und die Fremdenfeindlichkeit erwies sich als Stimmenfänger bei zehn bis 20 Prozent der niederländischen Wähler.

"Der Rassismus hier liegt unter der Oberfläche, man redet nicht darüber, es ist eine Art Tabuthema", sagt Rudy van de Beek. Würde man einen Gesprächspartner damit konfrontieren, gelte das als persönlicher Angriff und schlechter Stil. Und Premierminister Mark Rutte lasse es auch in dieser Frage an moralischer Führung fehlen. Viele sehen sein Erfolgsrezept gerade in der Fähigkeit, sich nach Art eines politischen Chamäleons in alle Richtungen zu drehen. Dabei macht er auch vor gelegentlichem Flirt mit den Slogans und Befindlichkeiten der Rechtsextremen nicht halt.

Junge Frauen kämpfen um ihren Platz

Niederlande | Wahlen | Klimaaktivistin am Binnenhof,
Für Klimaktivistin Janthe ist die Sache klar - Frau muss sich engagieren, notfalls alleineBild: Barbara Wesel/DW

Die angehende Sozialarbeiterin Neira (ihren Nachnamen will sie nicht nennen) absolviert Rahmen ihrer Ausbildung ein Praktikum im Click Jongeren. Sie sei von der niederländischen Politik komplett frustriert, sagt Neira. "Frauen haben kaum eine Chance. Bei den etablierten Parteien kommen sie nicht nach oben." Die seien immer noch Männerclubs und obwohl die Niederlande nach außen so modern wirkten - "im Inneren sind sie irgendwie noch traditionell und wollen Frauen in der Politik nicht zuhören". Zwar haben zwei der kleineren, linken Parteien inzwischen weibliche Vorsitzende, aber politisch würden sie nicht so viel bewegen, meint Neira. Sie wünsche sich dringend einen höheren Frauenanteil in der niederländischen Politik. Dort stehen im jetzigen Kabinett sechs Frauen elf Männern gegenüber. Aber so richtig optimistisch klingt sie dabei nicht.

Ein paar Straßen weiter sitzt Janthe mit ihren Protestplakaten gegen die Klimakatastrophe tapfer und einsam auf dem Pflaster vor dem Binnenhof, dem Sitz von Parlament und Regierung. Der Wind weht kalt und kaum jemand bleibt stehen, um ihre Botschaften vom Klimastreik zu lesen. Gerade erst haben die Grünen in Deutschland wichtige Wahlerfolge erzielt. Warum erscheint die Klimapolitik in den Niederlanden so zweitrangig? Warum liegt die Umweltpartei in den Umfragen irgendwo bei sieben Prozent?

"Die Leute haben Angst vor dem was kommt", erklärt Janthe, "sie wollen es einfach nicht wissen. Die Wirtschaft ist hier zu wichtig und viele wollen die Einschränkungen nicht, die Umweltpolitik bedeutet." Sie engagiert sich in in der "Fridays-for-Future"-Bewegung und harrt schon seit drei Tagen vor dem Regierungssitz aus. "Es gibt auch immer wieder größere Proteste, bei denen bis zu 30.000 Leute auf die Straße gehen", sagt sie. Aber wenigstens während der Wahlen will sie persönlich alles geben, um die Vorbeigehenden an den Klimaschutz erinnern, der doch das wichtigste Thema von allen sei.

Mehr Polarisierung durch COVID

Niederlande | Wahlen | Kika Buurman
Covid spaltet das Land: Kneipenwirtin Kika Buurman beklagt die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie Bild: Barbara Wesel/DW

Ortswechsel: Die Kneipe Rootz, zehn Gehminuten vom Parlamentsgebäude entfernt, mitten im Haager Zentrum. Schon seit dem vergangenen Oktober stehen hier die Stühle auf den Tischen, alles wirkt etwas eingestaubt. Managerin Kika Buurman hofft inständig, dass sie vielleicht im April wenigstens draußen wieder öffnen kann: "Wir haben unsere Stammgäste. Aber nach so vielen Monaten verlieren wir den Kontakt zu ihnen. Wir möchten so gerne wieder arbeiten, selbst wenn es kalt ist auf der Terrasse." Normalerweise beschäftigt sie hier mit Nightclub, Dancefloor und Bierbar rund 35 junge Leute. Als Folge der Corona-Pandemie musste Kika fast alle in die Arbeitslosigkeit schicken. Sie und ein paar hunderttausend junge Arbeitnehmer aus der Gastronomie sitzen seit Monaten zum zweiten Mal frustriert zu Hause.

"Wir können im Laden nur Take-out und Flaschenbier anbieten", und das mache sie auch nur, um den Laden nicht ganz schließen zu müssen. Lohnen würde sich das nicht: "Die Regierung unterstützt die Gastronomie, aber irgendwann müssen wir das Geld auch wieder zurückzahlen." Wenn sie auf andere Länder schaue, wolle sie nicht klagen, "aber es wird Jahre dauern, bis wir uns vom Lockdown finanziell erholt haben."

Kika glaubt, dass Corona den Wahlkampf im Land einfach erstickt habe: "Rutte hat sich einigermaßen geschlagen und niemand möchte derzeit in seinen Schuhen stecken." Die Pandemie aber habe die Niederlande noch weiter polarisiert: "Die Rechte und die Linke, sie nehmen jeweils immer extremere Positionen ein." Sie selbst und viele ihrer Freunde wüssten nicht mehr, wen sie wählen sollten. Die Leute säßen zu viel zu Hause und würden andauernd Nachrichten gucken, aber nur die News, die in ihr Weltbild passten. Das treibe die Gesellschaft noch weiter auseinander.

"Ein Minister hat im Winter gesagt, wir seien kein essentieller Wirtschaftszweig und man könne die Lokale ruhig geschlossen halten", empört sich die Wirtin. Gerade junge Leute aber wollten doch wieder ausgehen, ein Glas trinken, tanzen und lachen - alles essentielle Teile des sozialen Lebens, die dabei helfen, Frustration und Ärger über das Land, die Politik und die Mitmenschen für ein paar Stunden vergessen zu lassen.