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Schwieriger Umgang mit Behinderten-Werkstätten

Elliot Douglas rb
21. März 2021

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen verstoßen gegen ein UN-Abkommen. Jetzt hat das EU-Parlament beschlossen, sie abzuschaffen - aber die 3000 Werkstätten in Deutschland werden wohl nicht verschwinden.

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BWB |  Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung
Einige Aktivisten und Politiker fordern die Abschaffung der Werkstätten, da sie "veraltet und segregationistisch" seienBild: Elliot Douglas/DW

Es ist ein strahlend sonniger Nachmittag am Westhafenkanal. Fabrikgebäude und riesige Kräne überragen das Berliner Industriegebiet von allen Seiten. In einem siebenstöckigen Betongebäude hat der Feierabend begonnen. Arbeiter mit Corona-Schutzmasken strömen auf die Straße, werden von Mitarbeitern in Warnschutzjacken zu Kleinbussen geleitet oder gehen zum nahegelegenen Bahnhof.

Sie arbeiten in einer der geschützten Werkstätten für behinderte Menschen, kurz WfbM, die helfen sollen, sie in das Arbeitsleben zu integrieren. Solche Fördereinrichtungen gibt es seit rund 50 Jahren in Deutschland. Ihre Zeit könnte jedoch abgelaufen sein. Denn in diesem Monat verabschiedete die Europäische Union eine neue Strategie zur Unterstützung von Behinderten, die das Ende der Förderwerkstätten vorsieht.

Mehr als ein Arbeitsplatz

"Eine ganze Reihe von Menschen mit Behinderungen arbeiten hier. Von Menschen mit Lernschwierigkeiten bis hin zu Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen", sagt Geschäftsführer Dirk Gerstle in der geräumigen, sonnenverwöhnten Kunstwerkstatt der Einrichtung mit Blick auf den Kanal.

Die Werkstatt ist mit rund 1600 Mitarbeitern die größte in Berlin und eine von mehr als 3000 in Deutschland, in denen insgesamt rund 320.000 Mitarbeiter beschäftigt sind. Zu ihren Aufgaben gehören handwerkliche Tätigkeiten verschiedenster Art, Metall-, Holz- und Verpackungsarbeiten sowie Verwaltungsaufgaben, die auf ihre Erfahrung und Fähigkeiten zugeschnitten sind.

BWB |  Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo 1600 Menschen arbeiten
Die Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung Bild: Elliot Douglas/DW

Zum Auftrag der Werkstatt gehöre auch die Verantwortung für die Betreuung und Rehabilitation der Mitarbeiter, so Gerstle. Der soziale Aspekt ihres täglichen Lebens sowie die psychische und physische Unterstützung sind ebenso wichtig wie die Arbeit, die sie verrichten. Gerstle sieht die Mitarbeiter als eine "Gemeinschaft".

Verstoß gegen UN-Vorgaben

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Deutschland 2008 ratifiziert hat verpflichtet in Artikel 27 die Unterzeichnerstaaten, "den Erwerb von Arbeitserfahrung durch Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt zu fördern."

Mehr als zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention "scheitern die EU-Mitgliedstaaten immer noch daran, ihre Verpflichtungen zu erfüllen", erklärt die deutsche Grüne Katrin Langensiepen gegenüber der Deutschen Welle. Als Mitglied des Europäischen Parlaments hat sie die EU-Behindertenstrategie mitgestaltet.

Zeichen gegen die Abschottung

Langensiepen selbst ist kleinwüchsig und wurde als erste Frau mit einer sichtbaren Behinderung in das EU-Parlament gewählt. Sie ist Autorin eines Berichts, in dem das Auslaufen geschützter Werkstätten gefordert wird. In dem Papier, das letzte Woche in Straßburg mit großer Mehrheit angenommen wurde, weist das EU-Parlament darauf hin, "dass geschützte Werkstätten für Menschen mit Behinderungen lediglich eine Option für einen befristeten Zeitraum in ihrem Arbeitsleben darstellen sollten". Die Mitgliedstaaten werden unter anderem aufgefordert, "eine reibungslosere Einbindung von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft insgesamt sicherzustellen".

Katrin Langensiepen | Mitglied des Europäischen Parlaments
Die Grünen-EU-Abgeordnete Katrin Langensiepen in BrüsselBild: Didier Baumweraerts/EP

Mit dieser Entscheidung habe das Europäische Parlament ein klares Zeichen gegen die Abschottung von Menschen mit Behinderung gesetzt, sagt Langensiepen. "Anstatt alte Systeme zu fördern, die Menschen mit Behinderungen unsichtbar machen, setzen wir uns für die Stärkung sozialer Alternativen ein, bei denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Dafür muss die EU in einen sozialen, inklusiven und barrierefreien Arbeitsmarkt investieren."

Wirtschaftliche Ziele als Integrationsbremse

Nach dem derzeitigen deutschen Modell besteht der Hauptzweck von geschützten Werkstätten darin, Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt einzugliedern. Tatsächlich gelingt dieser Wechsel jedoch weniger als einem Prozent der Betroffenen. In einem durchschnittlichen Jahr bei der WfbM, so Gerstle, könnten zehn Mitarbeiter zu anderen Arbeitsplätzen wechseln, oder etwa 0,6 Prozent seiner Belegschaft.

Ein Hindernis ist, dass die Werkstätten als gewinnorientierte Unternehmen betrieben werden müssen. Dies bedeutet, dass zur Bezahlung der Mitarbeiter und zur Existenz im rechtlichen Rahmen wirtschaftliche Ziele erreicht werden müssen. Was nach Ansicht Langensiepens dazu führt, dass "Werkstätten kein Interesse daran haben, die fleißigsten Arbeiter weiterziehen zu lassen". Denn die produktivsten Mitarbeiter in den Werkstätten sind möglicherweise diejenigen, die am besten auf die Integration in den primären Arbeitsmarkt vorbereitet sind. Gleichzeitig sind sie aber auch häufig diejenigen, auf deren Arbeitsleistung die Werkstätten am meisten angewiesen sind.

Gerstle sagte, einige Mitarbeiter - "aber keine Mehrheit" - seien von diesem leistungsorientierten Ansatz motiviert. Er habe Fälle gesehen, in denen Angestellte, die sich auf Gewinne konzentrierten, fähige Mitarbeiter nicht dazu ermutigten, die Werkstatt wegen einer besser bezahlten Beschäftigung zu verlassen.

Nur Taschengeld für Mitarbeiter

Eine weitere Kritik richtet sich gegen den geringen Verdienst. Anne Gersdorff, die für die Behindertenrechts-Nichtregierungsorganisation Sozialhelden arbeitet, bezeichnet ihr Einkommen als "Taschengeld". Das zwischen den Werkstätten variierende Einkommen liegt durchschnittlich bei einem Euro pro Stunde - weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland von derzeit stündlich 9,35 Euro.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Werkstätten hat eine Lohnerhöhung gefordert. In einer Erklärung an die DW weist sie aber auch darauf hin, dass Mindestlohnvergleiche schwierig sind. "Dieses Einkommen wird durch eine öffentlich finanzierte Arbeitsförderungsbeihilfe ergänzt. Die Arbeit in Werkstätten ist nicht direkt mit einer Vollzeitbeschäftigung vergleichbar, weil eine Werkstatt Dienstleistungen wie Ergotherapie und Physiotherapie, Sprachtherapie sowie sportliche und kulturelle Aktivitäten anbietet", die Mitarbeiter auch während ihrer Arbeitszeit nutzen könnten, so die Arbeitsgruppe.

Darüber hinaus erhielten Menschen mit Behinderungen, die neben der Werkstattvergütung über kein weiteres Einkommen verfügten, staatliche Unterstützung für die Lebenshaltungskosten. "Zum Beispiel Subventionen für Mietzahlungen, Pflegedienste, Renten für reduzierte Erwerbsfähigkeit und Unterstützung des Grundeinkommens", heißt es in der Erklärung.

Bürokratische Hürden bei Eingliederung

Gersdorff und andere Aktivisten bemängeln hingegen, dass die Hilfen das Kernproblem verfehlen. Ihr Vorwurf: Menschen mit Behinderungen sollten die Möglichkeit haben, einen Lohn zu verdienen, der dem anderer Arbeitnehmer gleichkomme. Auf einer Pressekonferenz wies Gersdorff allerdings darauf hin, dass sich "Menschen mit Behinderungen, die individuelle integrative Wege beschreiten wollen", bürokratische Hindernisse in den Weg stellten, "wenn sie ihr Glück auf dem offenen Arbeitsmarkt versuchen."

Trotz der Vorgaben von UN und EU ist eine Änderung der deutschen Politik bei den WfbM nicht in Sicht. Nach Regierungsangaben sollen Werkstätten eine von mehreren Möglichkeiten bleiben, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Weitere unterstützende Maßnahmen sind in einem Teilhabegesetz festgelegt, dass seit 2018 in Kraft ist und bis 2023 schrittweise umgesetzt wird.

Gleichberechtigter Teil des Arbeitsmarktes

"Die Zulassung anderer Leistungsanbieter und die Einführung des Budgets für Arbeit als alternative Angebote zu den Werkstätten ergänzen (…) die Teilhabeleistungen der Menschen mit Behinderungen", heißt es auf der Homepage des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Anspruchsberechtigt seien all diejenigen Menschen mit Behinderungen, die einen Anspruch auf eine Beschäftigung im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen hätten. "Ein Rückkehrrecht in die Werkstatt ist jederzeit möglich."

Nach Ansicht der Europaparlamentarierin Langensiepen können geschützte Werkstätten für einige Arbeitnehmer sinnvoll sein - aber nicht in ihrer derzeitigen Ausgestaltung, sondern als gleichberechtigter Teil des regulären Arbeitsmarktes. "Wenn einige Menschen, die in den Werkstätten beschäftigt sind, dort glücklich sind und bleiben wollen, dann sollte das möglich gemacht werden - aber mit dem Status von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern."

Dieser Text wurde nachträglich modifiziert.

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