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Politik

Deutschlands rückwärtsgewandtes Mutterbild

Kommentarbild Sonya Diehn
Sonya Angelica Diehn
21. April 2021

Die Nominierung einer Kanzlerkandidatin mit kleinen Kindern hat tiefsitzende Vorurteile gegenüber berufstätigen Müttern offenbart, die sich bis heute durch die deutsche Gesellschaft ziehen, meint Sonya Diehn.

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Annalena Baerbock (in der Hocke mit Mundschutz) übergibt im August 2020 Spielsachen an Kita-Kinder
Obwohl Annalena Baerbock (re.) ihre eigenen Kinder aus dem Rampenlicht heraushält, ist sie eine starke Anwältin für KinderBild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Die Grünen haben mit Annalena Baerbock eine berufstätige Mutter zu ihrer Kanzlerkandidatin gemacht. Angesichts des bundesweiten Aufstiegs der Grünen hat die 40-Jährige sogar eine echte Chance auf den Spitzenjob.

Ihre Nominierung hat Signalwirkung: Eine Frau aus der Generation Mauerfall repräsentiert das moderne Deutschland. Besser als die mürrischen alten Männer, die bei den Konservativen zur Diskussion standen, tut sie das allemal.

Kinder und Kanzleramt?

Als berufstätige Mutter bin ich begeistert von der Entscheidung der Grünen. Erst recht, als ich in den Sozialen Medien die Gegenreaktion auf eine in den deutschen Mainstream-Medien gestellte Frage wahrnahm: "Kinder und das Kanzleramt - lässt sich das überhaupt vereinbaren?" Dieser Satz war der nach der Bekanntgabe der Kandidatur von Annalena Baerbock in einem Online-Artikel zu lesen. Er ist nur eines von vielen Beispielen, die die Fähigkeit von berufstätigen Müttern in Frage stellen, ihre Kinder angemessen zu betreuen.

Nachdem ich seit mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland lebe, erscheint mir der Gedanke, dass Annalena Baerbock für diesen Spitzenjob ungeeignet sein könnte, weil sie Kinder hat, nicht wirklich überraschend. Trotz großzügiger Mutterschutz- und Elternzeit-Regelungen hat die Masse der Deutschen erstaunlich altmodische Ansichten, wenn es um die Berufstätigkeit von Müttern geht.

Rabenmütter

Ich weiß nicht, wie oft ich in Deutschland den Begriff "Rabenmutter" im Zusammenhang mit berufstätigen Müttern gehört habe. "Rabenmutter" ist ein antiquiertes Wort für Mütter, die "das Nest verlassen", um zu arbeiten und ihre "Küken" sich selbst überlassen.

Kolkrabe Corvus corax
"Rabenmutter" - ein archaischer (und unzutreffender) deutscher Begriff für Mütter, die ihre Kinder vernachlässigenBild: Jack Bailey/Ardea/imago images

Doch die negative Einstellung der Deutschen gegenüber berufstätigen Müttern ist weitaus heimtückischer: Dass suggeriert wird, Annalena Baerbock sei als Kanzlerin ungeeignet, weil sie berufstätige Mutter ist, spiegelt eine Haltung wider, die in Deutschland nicht nur tief verwurzelt, sondern auch institutionalisiert ist - gerade im Bereich der Kinderbetreuung.

Doppelte Standards

Die Tatsache, dass Annalena Baerbock Mutter von zwei kleinen Kindern ist (Jahrgänge 2011 und 2015), wird in Medienberichten unverhältnismäßig oft thematisiert. Vor allem, wenn man das mit der Tatsache vergleicht, dass Kinder in Berichten über ihre um die Kandidatur streitenden konservativen Gegenspieler praktisch nie erwähnt wurden. Der jetzt zum Kandidat erkorene Armin Laschet hat drei erwachsene Kinder, während Markus Söder - bis Dienstag früh ebenfalls im Rennen - Vater von vier Kindern ist. Seine beiden Jüngsten wurden 2004 und 2007 geboren, gehen also ebenfalls noch zur Schule.

Und in manchen Medienberichten ist genau DAS der Fokus: Baerbock wird vor allem als Mutter vorgestellt mit der Implikation, dass sich diese Aufgabe nicht mit dem Hochleistungsjob der Politikerin vereinbaren lässt.

Kein einfacher Spagat

Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Frage fußt natürlich auf der Realität, der sich jede berufstätige Mutter stellen muss. Denn auch mit jedem "normalen" Job ist es nicht immer einfach, den Spagat zwischen beiden Rollen zu schaffen. Zum Glück bieten in Deutschland viele Arbeitgeber flexible Arbeitszeiten sowie die Möglichkeit der Teilzeitarbeit, um Eltern die Betreuung ihrer Kinder zu ermöglichen.

Aber die traurige Tatsache ist, dass die Bedingungen in Deutschland so sind, dass das Arbeitsleben eines Elternteils - typischerweise der Mutter - geopfert werden muss.

Von der Jagd nach einem Betreuungsplatz

Der Mangel an Plätzen in Kindertagesstätten ist Dauerthema unter jungen Eltern in Deutschland. Theoretisch hat jedes Kind ab dem ersten Geburtstag Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Bereits während der Schwangerschaft beginnt die Suche nach einem Kita-Platz, werdende Eltern tragen sich in Wartelisten ein und fragen hartnäckig nach. Doch selbst das hilft nicht.

Kommentarbild Sonya Diehn
DW-Redakteurin Sonya Angelica Diehn

Bundesweit finden etwa 14 Prozent der Kinder unter drei Jahren keinen Betreuungsplatz. Die Zahlen sind regional sehr unterschiedlich. In Ostdeutschland ist die Versorgung in der Regel besser - Teil des kommunistischen Erbes. In Nordrhein-Westfalen - das Bundesland in dem ich lebe und in dem der konservative Kanzlerkandidaten Armin Laschet derzeit Ministerpräsident ist - liegt diese Zahl bei 19 Prozent. In meiner Stadt Bonn sind es sogar 21 Prozent. Bundesweit fehlen 342.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren, allein in Bonn sind es knapp 2000.

Bewerben wie um einen Job

In meiner Nachbarschaft in der Bonner Innenstadt gibt es mindestens ein halbes Dutzend Kitas im Umkreis von zehn Gehminuten. Nach der Geburt unseres Sohnes haben wir uns bei allen beworben - aber nirgendwo einen Platz bekommen. Fast alle verlangen eine regelrechte Bewerbung, man muss seinen Beruf nennen und ein Familienfoto einreichen. Ich habe mich gefühlt, als würde ich mich dort um eine Stelle bewerben.

Unser Sohn ist jetzt zwei Jahre alt und wir haben immer noch keinen Platz. Immerhin hat die Stadt uns geholfen, eine Lösung zu finden: eine Tagesmutter, mit der wir sehr zufrieden sind. Der einzige Haken dabei ist, dass die Betreuung nur bis 15 Uhr geht und freitags sogar nur bis 14 Uhr. Damit kann man zwar nicht in Vollzeit berufstätig sein, aber statistisch gehört unser Sohn nicht zu den 21 Prozent der Bonner Kleinkinder ohne Betreuungsplatz - er gilt ja als "abgesichert".

Hoffen auf Annalena Baerbock

Und wie, so fragt man sich, soll das dann funktionieren? Zum Beispiel könnten Sie Ihr Kind in eine private Kindertagesstätte geben und dafür rund 1000 € pro Monat bezahlen. Oder ein Elternteil opfert eben seine Karriere. Meistens ist das die Mutter - bei uns ausnahmsweise der Vater. Wir nennen das in unserer Familie daher die "Elternfalle".

Als Mutter dürfte Annalena Baerbock diese Situation sehr gut kennen. Ich für meinen Teil hoffe, dass sie die nächste deutsche Bundeskanzlerin wird. Sie würde berufstätigen Müttern nicht nur helfen, indem sie mit dem Vorurteil der "Rabenmutter" aufräumt; vielleicht würde sie auch politische Maßnahmen gegen die "Elternfalle" durchsetzen.

 

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Felix Steiner