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Fünf Mythen über Tschernobyl im Faktencheck

26. April 2021

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl jährt sich zum 35. Mal. Was am 26. April 1986 in der Ukraine geschah, ist längst nicht mehr geheim. Trotzdem bleibt Tschernobyl von Mythen umwoben. Die DW hat fünf davon geprüft.

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Ukraine - Wald in der nähe von Tschernobyl
Um die Atomkatastrophe von Tschernobyl ranken sich zahlreiche MythenBild: picture-alliance/Photoshot/D. Tianfang

Ist Tschernobyl die größte Atomkatastrophe aller Zeiten?

"Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten" oder "...die bisher größte dagewesene Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte" - Schlagzeilen und Bezeichnungen wie diese werden immer wieder benutzt und nur selten hinterfragt. Die Bezeichnung "größte Atomkatastrophe aller Zeiten" wird nicht näher definiert, legt aber nahe, es gäbe eine Klassifizierung für die Atomkatastrophen als solche - und ist dadurch irreführend.

In der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (kurz: International Nuclear and Radiological Event Scale) werden Störfälle und Unfälle in kerntechnischen Anlagen in sieben Stufen eingeordnet. Die Skala wurde von Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und der Kernenergieagentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD/NEA) im Jahr 1990 entwickelt und dient der Einordnung von Störfällen und Unfällen in kerntechnischen Anlagen. Als Stufe sieben, also als "Katastrophaler Unfall" (Major accident) mit dem Austritt großer Mengen von Radioaktivität und mit schweren Auswirkungen auf Menschen und Umwelt, wurden bisher sowohl der Reaktorunfall in Tschernobyl als auch die Atomkatastrophe in Fukushima eingestuft. Innerhalb der Stufen sind laut INES aber keine Vergleiche vorgesehen.

Fukushima so gefährlich wie Tschernobyl

Verstehe man unter einer "Atomkatastrophe" nicht nur Unfälle in Nuklearanlagen sondern auch alle von Menschen verursachten radioaktiven Emissionen, dann habe es in der menschlichen Geschichte Ereignisse gegeben, die für viel mehr atomare Verseuchung gesorgt hätten als der Super-GAU von Tschernobyl, sagt die US-amerikanische Forscherin Kate Brown. " Nehmen wir die Produktion von Plutonium. Die amerikanischen und sowjetischen Werke, die Plutonium für die Atombombe produzierten, gaben im Rahmen des normalen Arbeitsalltags jeweils mindestens 350 Millionen Curies (Anmerkung der Redaktion: Einheit der Aktivität eines radioaktiven Stoffes) in die Umgebung ab. Und das war kein Unfall", erklärt die Professorin für Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft am Massachusetts Institute of Technology im DW-Interview.

"Sehen wir uns den radioaktiven Niederschlag bei der Detonation von Atombomben in Zeiten der oberirdischen Kernwaffentests in Gebieten auf der ganzen Welt an. Und nehmen wir nur ein Isotop, ein radioaktives Jod, das für die menschliche Gesundheit schädlich ist, weil es von der menschlichen Schilddrüse aufgenommen wird und Schilddrüsenkrebs und -erkrankungen verursacht. Tschernobyl setzte geschätzt 45 Millionen Curies radioaktiven Jods frei. Und die Sowjets und die Amerikaner setzten in nur zwei Testjahren 1961 und 1962 keine 45 Millionen Curies, sondern20 Milliarden Curies radioaktives Jod frei." Und das sei nicht aus Versehen oder als Ergebnis eines menschlichen Fehlers geschehen, betont die Wissenschaftlerin.

Gibt es Mutanten in der Sperrzone von Tschernobyl?

Die Frage von Besuchern, ob in Tschernobyl Mutanten ihr Unwesen treiben, gehört laut Reiseführern vor Ort mittlerweile zu den Klassikern. Aufgeheizt von Horrorfilmen und Büchern sowie Computerspielen bleibt diese Vorstellung hartnäckig bestehen. Sie ist jedoch falsch.

Denys Wyschnewskyj, Biologe vom Biosphärenreservat Tschernobyl, beobachtet die Natur rund um den Katastrophenort seit zwanzig Jahren. Die zweiköpfigen Wölfe oder fünfbeinigen Nagetiere hat der führende Wissenschaftler des Biosphärenreservats Tschernobyl noch nie erlebt. " Der Einfluss der ionisierenden Strahlung kann zwar mit gewisser Wahrscheinlichkeit einige Umstrukturierungen im Körper verursachen, aber meistens verringert er einfach die Lebensfähigkeit des Organismus", erklärt Wyschnewskyj im DW-Interview.

So würden die Nachkommen vieler Nagetiere noch in der Embryonalentwicklung während der Schwangerschaft sterben, sagt der Wissenschaftler. Die Fehler im Genom oder seine Störungen führten dazu, dass der Organismus nicht funktionsfähig sei. Und die Tiere, die mit gewissen Behinderungen geboren würden, könnten in der wilden Natur nicht lange überleben, sagt Wyschnewskyj. Der Biologe und seine Kollegen untersuchten in den letzten Jahrzehnten Tausende von Tieren in der Sperrzone und stellten keine ausgefallenen morphologischen Veränderungen fest. "Warum? Weil wir immer mit den Tieren zu tun haben, die überlebt und in diesem Kampf ums Überleben gewonnen haben." Man könne sie also schlecht mit den Tieren vergleichen, die gezielt im Labor bestrahlt würden und von Wissenschaftlern versorgt würden.

Wildschweine
Tiere, die in der Sperrzone leben, haben teilweise eine geringere LebenserwartungBild: Ralf Hirschberger/dpa/dpa-Zentralbild/picture alliance

Hat die Natur die Katastrophe von Tschernobyl bereits überwunden?

Fotostrecken und Reportagen mit den Überschriften wie "In der Sperrzone von Tschernobyl blüht das Leben" oder "Naturparadies Tschernobyl?"erwecken den Eindruck, die Natur rund um den Ort des Reaktorunfalls hätte sich von der Atomkatastrophe bereits erholt. " Das stimmt nicht", sagt Kate Brown, die seit 25 Jahren zu Tschernobyl forscht.

"Das ist eine sehr verführerische Idee, dass die Menschen die Natur verseucht haben, und alles was sie machen müssten, ist sich zurückzuziehen - die Natur korrigiert es selber", so die Wissenschaftlerin. In Wirklichkeit jedoch gibt es in der Sperrzone Biologen zufolge weniger Arten von Insekten, Vögeln und Säugetieren. Zwar wird immer wieder darüber berichtet, dass in der Sperrzone bedrohte Arten von Vögeln und Insekten auftauchen - das ist jedoch kein Beleg für die "Gesundheit" der Umwelt in Tschernobyl.

Langzeitbeobachtungen sowohl von Wild- als auch von Versuchstierpopulationen in den stark kontaminierten Gebieten zeigen einen signifikanten Anstieg der Mortalität, vermehrtes Auftreten von Tumor- und Immundefekten, verringerte Lebenserwartung, frühes Altern, Veränderungen im Blut und im Kreislaufsystem, Missbildungen und andere Faktoren, die die Gesundheit der Tiere beeinträchtigen.

Die vorhandene Diversität erklären die Wissenschaftler vor allem mit der Migration der Arten. Der Biologe Denys Wyschnewskyj verweist dabei auf die einzigartigen Bedingungen für die Tiere: "Die Sperrzone von Tschernobyl beträgt 2600 Quadratkilometer. Weitere 2000 Quadratkilometer zu Norden erstreckt sich die Sperrzone von Belarus. Auch zu Osten und Westen liegen Gebiete mit einer äußerst niedrigen Bevölkerungsdichte. Wir haben somit in Osteuropa ein Riesencluster für die Erhaltung der hiesigen Waldfauna." Ungestört von den Menschen leben hier Luchse, Bären, Wölfe – große Raubtiere, die besonders viel Platz brauchen.

Nach wie vor aber bleibt das Land in der Sperrzone auch 35 Jahre nach der Atomkatastrophe radioaktiv verseucht. Ein Drittel des Gebiets ist mit den langlebigen transuranischen Elementen kontaminiert, deren Halbwertszeit über 24.000 Jahre beträgt.

Bäume bei Tschernobyl
Teile der Natur im Sperrgebiet werden noch Tausende Jahre lang kontaminiert seinBild: Chen Junfeng/Photoshot/picture alliance

Ist der Besuch von Tschernobyl für Touristen sicher?

Die Sperrzone rund um Tschernobyl wurde schon 25 Jahre nach der Atomkatastrophe zum Magneten für Neugierige aus aller Welt. Der Erfolg der HBO-Miniserie "Tschernobyl" ließ die Besucherzahlen im Jahr 2019 auf 124.000 steigen, doppelt so viel wie im Jahr davor.

Die Staatliche Agentur für Verwaltung der Sperrzone richtet nach eigenen Angaben mittlerweile zwei Dutzend Land-, Wasser- und Luftrouten ein, um Besichtigungen zu ermöglichen. Bei dem Besuch gelten strenge Sicherheitsauflagen, um die Menschen zu schützen: Kleidung, die den Körper maximal bedecken soll, kein Verzehr von Essen oder Trinken im Freien und die Einhaltung der offiziellen Routen sind Vorschrift. Als mögliche Strahlendosis bei einem eintägigen Besuch wird offiziell ein Wert von bis zu 0,1 Millisievert angegeben.

Wenn man an einer offiziell erlaubten Tour teilnehme und sich an die erwähnten Regeln halte, sei ein Besuch in die Sperrzone von Tschernobyl gesundheitlich unbedenklich, sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) im DW-Interview. "Da sind wir weit von Dosisbereichen entfernt, bei denen man zum Schutz der Gesundheit abraten müsste. Wenn man das mal so grob einordnen will:  Im Durchschnitt erhält ein Mensch in Deutschland eine Strahlendosis von etwas über 4 Millisievert pro Jahr. Davon stammt eine Hälfte von der natürlichen Strahlung, der wir immer ausgesetzt sind, die andere vor allem aus den ganzen typischen medizinischen Anwendungen und Flugreisen."

Ukraine: Tschernobyl als Touristenattraktion

Eine vergleichbare effektive Dosis von bis zu 0,1 Millisievert kann man nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz zum Beispiel durch Höhenstrahlung bei einem Flug von München nach Japan bekommen. Und bei so manchen medizinischen Anwendungen sei die Strahlendosis sogar um einiges höher, sagt Dokter. So beträgt die typische effektive Dosis beispielsweise bei einer Röntgenaufnahme des Beckens 0,3-0,7 Millisievert und bei einer Computertomographie des Brustkorbs (Thorax) 4-7 Millisievert.

Auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) hält einen Besuch Tschernobyls für möglich: "Man kann sicherlich das Gebiet von Tschernobyl besuchen, einschließlich der Sperrzone. Obwohl einige der in die Atmosphäre freigesetzten radioaktiven Isotope noch vorhanden sind (wie Strontium-90 und Cäsium-137), sind sie auf für begrenzte Zeiträume tolerierbaren Expositionsniveaus."

Ist Tschernobyl immer noch menschenleer?

Die einst für die Mitarbeiter des Kernkraftwerks Tschernobyl errichtete Stadt Prypjat (meistens als Geisterstadt bezeichnet) und die benachbarte Stadt Tschernobyl gelten offiziell als unbewohnt. Gänzlich menschenleer waren sie aber nach dem Reaktorunfall 1986 nie. Seitdem werden in beiden Städten einige Tausende Mitarbeiter beschäftigt. Größtenteils handelt es sich um Männer, die in Zwei-Wochen-Schichten arbeiten und das Funktionieren der kritischen Infrastruktur in den beiden Städten sichern - nicht zuletzt weil die nach dem Super-GAU im Reaktorblock 4 erhaltenen Reaktorblöcke 1 bis 3 noch jeweils bis 1991, 1996 und 2000 in Betrieb waren.

Eine Sondereinheit des Innenministeriums patrouilliert im Gebiet und kontrolliert die Zugänge zur Sperrzone. In Tschernobyl gibt es Lebensmittelgeschäfte und sogar mindestens zwei Hotels, die allerdings vor allem für Dienstreisende gedacht sind.

Zu den inoffiziellen Bewohnern zählen freiwillige Rückkehrer. Sie siedelten sich auf eigene Faust hauptsächlich in den Folgejahren nach der Atomkatastrophe in den Dörfern an, die seit der Evakuierung von über 115.000 Einwohnern leer stehen. Die genaue Zahl der Rückkehrer ist nicht bekannt.

Auf die Frage der DW, wie viele Menschen in Tschernobyl lebten, antwortete die Sprecherin der Staatlichen Agentur für Verwaltung der Sperrzone mit einem Wort: "niemand". Trotz immer noch geltenden Vorschriften lebten aber nach Schätzungen in der gesamten Sperrzone im Jahr 2016 noch etwa 180 Personen. Da es meistens ältere Menschen sind, werden es tendenziell immer weniger. Zwar werden die Selbsteinsiedler offiziell nur geduldet, sie bekommen aber im Alltag gewisse Unterstützung vom Staat. Briefträger liefern ihnen einmal im Monat die Rente und ein mobiles Geschäft versorgt sie einmal in zwei bis drei Monaten mit Lebensmitteln.