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Politik

Wie Pinochet eine Abgeordnete politisierte

8. Oktober 2021

Als Enkelin eines Ministers des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende ist ihr Leben von der Politik geprägt. Im DW-Interview spricht Isabel Cademartori über ihren Einzug in den Bundestag.

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Isabel Cademartori vor einem Wahlplakat mit ihrem Foto.
Isabel Cademartori: Ihre Zeit in Chile hat sie politisiert Bild: Privat

Jung, weiblich und mit ungewöhnlicher Migrationsgeschichte: Isabel Cademartori ist eine der neuen SPD-Abgeordneten im Bundestag. Die 33-jährige wurde im Wahlkreis Mannheim, im Südwesten Deutschlands, direkt gewählt und ist in der Fraktion die Einzige mit lateinamerikanischen Wurzeln - und vermutlich auch die Einzige, die einen engen Bezug zu Chiles ehemaligen Präsidenten Salvador Allende hat.

Ihr Großvater väterlicherseits, der chilenische Wirtschaftswissenschaftler José Cademartori, ein Kommunist, war vier Legislaturperioden lang Mitglied des Parlaments. Von Juli bis September 1973 war er der letzte Wirtschaftsminister unter Allende. Nach dem Militärputsch wurde er drei Jahre lang in verschiedenen Gefängnissen festgehalten und verließ das Land 1976 ins Exil. Er lebte in Venezuela, in Kuba und vier Jahre in der damaligen DDR. 

Isabel Cademartori | deutsche Politikerin
José Cademartori (links) war Wirtschaftsminister unter dem chilenischen Ex-Präsidenten Salvador AllendeBild: Privat

Isabel Cademartoris Eltern, er Chilene und sie Deutsche, lernten sich dort kennen. Sie heirateten und 1989, nach der Volksabstimmung, die das Ende der Diktatur von Augusto Pinochet besiegelte, zog die Familie nach Chile. Isabel wuchs in Santiago auf, nach der Trennung ihrer Eltern kehrte sie mit zwölf Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Mannheim, wo sie auch einen Master-Abschluss machte. Später begann sie in der Forschung, als Lehrerin und Stadträtin zu arbeiten. 

DW: Inwiefern hat Ihre Familiengeschichte Ihren Weg in die Politik beeinflusst? 

Isabel Cademartori: Es ist der Grund, warum ich Politik mache. Seit meiner Kindheit wurde bei uns zu Hause über Politik gesprochen, und mein Großvater erzählte uns seine Geschichte, die mich immer fasziniert hat. Ich erinnere mich sehr lebhaft an politische Diskussionen in der Schule. Es war sehr schockierend zu erfahren, dass es Menschen gab, die Pinochet nicht als Diktator oder diese Zeit nicht als Diktatur ansahen. Ein Klassenkamerad in der dritten Klasse sagte: "Pinochet war ein guter Präsident", und ich dachte: "Was meinst du mit 'Präsident'?". Das hat mich sehr politisiert. 

Wie liefen die Gespräche zu Hause ab? 

Mein Großvater war auf Dawson inhaftiert (einer Insel in der Meerenge Magellanstraße, die von der Pinochet-Diktatur als Haftanstalt genutzt wurde). Ich habe mich gefragt, wie sie so etwas tun können, so etwas Undemokratisches. Für mich war das der Anstoß, ein politischer Mensch zu werden, der sich für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzt. Und obwohl ich in der SPD bin, die nicht mit der Partei meines Großvaters identisch ist, sind wir uns in allen wichtigen Dingen einig. 

Welche Werte hat er an Sie weitergegeben? 

Vor allem den Wert der Demokratie. Vor dem Putsch versuchten sie damals das Land zu verändern, die Armut zu beenden. Aber sie schafften es nicht, weil es zum Staatsstreich kam, einem Akt gegen die Demokratie, auf die eine brutale und gewalttätige Diktatur folgte. Deshalb bin ich in der SPD, weil die Demokratie die Grundlage für alles ist und niemals infrage gestellt werden darf. 

Isabel Cademartori | deutsche Politikerin
Isabel Cademartori will sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen - Anstoß war die Geschichte ihres Großvaters Bild: Privat

Wie beurteilen Sie den derzeitigen chilenischen Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung? 

Er gibt Hoffnung. Aus politischer und wissenschaftlicher Sicht ist es sehr interessant zu sehen, wie diese Verfassung im Vergleich zu denen des letzten Jahrhunderts aussehen wird. Viele Länder, darunter auch Deutschland, können davon profitieren, wenn sie diesem Prozess aufmerksam verfolgen und die demokratischen Kräfte unterstützen. 

Anders als in Deutschland bestimmt in Chile die Wahl der Schule den sozioökonomischen Status einer Person. Daher ist es sehr wichtig, ein kostenloses Bildungssystem zu schaffen. Auch in Umwelt- und Klimafragen ist es wichtig, dass Chile die Kontrolle über seine Ressourcen behält und dass die Bürger selbst entscheiden, wie sie diese nutzen, damit die Mehrheit davon profitiert. Ich glaube, dass Veränderungen möglich sind. In Chile gibt es viel Reichtum, er ist nur in den Händen einiger weniger Menschen konzentriert. Die Ungleichheit ist eines der größten Probleme des Landes. 

Das Gespräch führte Victoria Dannemann.