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PolitikBrasilien

Das Corona-Wunder von Brasilien

26. November 2021

Im Land des Corona-Verharmlosers Bolsonaro geschieht Außergewöhnliches: die Infektionszahlen sinken und sinken. Ein Grund ist die hohe Impfquote. In Sao Paulo haben 98 Prozent der Erwachsenen eine Erstimpfung.

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Brasilien Vorbereitungen für den Karneval
Sambaschule in Rio de Janeiro Anfang NovemberBild: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images

76 Prozent der Bevölkerung sind mindestens einmal geimpft, die Sieben-Tage-Inzidenz ist auf gerade einmal 30 gefallen und auf einigen Intensivstationen in den Großstädten liegt kein einziger COVID-19-Patient mehr. Wie hätte eine deutsche Regierung, wie die deutschen Bundesländer wohl reagiert, wenn der Karneval kurz vor der Tür steht? Und Gesellschaft und Wirtschaft Druck machen, die fünfte Jahreszeit ja nicht wieder ausfallen zu lassen?

Vielleicht zeigt dieses Beispiel eindrucksvoll, dass Deutschland in der Pandemiebekämpfung vom Ausland sehr viel lernen kann. Auch wenn Brasilien wie kaum ein anderes Land von Corona gebeutelt wurde: mit über 613.000 COVID-19-Toten liegt das Land weltweit an dritter Stelle, hinter den USA und Indien.

Erste Karneval-Absagen, andere Städte hoffen noch

Es ist auch diese schmerzhafte Erfahrung, wegen der 58 Städte im Bundesstaat Sao Paulo jetzt die Reißleine gezogen und den Karneval erneut abgesagt haben. In Salvador, Botucatu, Sorocaba, Poá und Suzano fällt der Höhepunkt des Jahres, wie schon 2021, flach. Doch noch haben viele Brasilianer Hoffnung: In Recife, Belo Horizonte und Rio De Janeiro soll ein neu geschaffenes Komitee in den nächsten Wochen die endgültige Entscheidung treffen.

Brasilien Pfizer-Impfstadt Toledo, Brasilien
Eine Frau erhält ihre Impfung in der brasilianischen Stadt ToledoBild: Stadtverwaltung Toledo, Brasilien

"Während in Ländern wie Deutschland der Impfstoff sehr schnell da war und es jetzt Probleme gibt, ihn in alle Sektoren der Bevölkerung zu bringen, war es hier genau umgekehrt: wir hatten in Brasilien zunächst keinen Zugang zum Impfstoff, und dann eine Bevölkerung, die sich so schnell wie möglich impfen wollte", sagt Ricardo Palacios, "aber wir sehen die Proteste der Impfgegner in Europa mit großer Sorge, denn sie könnten uns eine neue Welle bescheren, wenn sie zum Karneval nach Brasilien kommen."

Patentrezept: Vertrauen in den Impfstoff

Der gebürtige Kolumbianer gehört zu den führenden Virologen Lateinamerikas, hat die Wissenschaft am führenden Forschungsinstitut Butantan vorangetrieben. Palacios war es auch, der das international beachtete "Projekt S" leitete: Als erste Stadt weltweit wurde das 45.000-Einwohner-Städtchen Serrana im Süden des Landes Anfang des Jahres komplett durchgeimpft. Jetzt ist auch ganz Brasilien im Begriff, Modellprojekt zu werden: 98 Prozent Erstimpfungen bei den Erwachsenen in Sao Paulo, 95 Prozent in Rio, und in den beiden Mega-Metropolen mittlerweile Tage mit keinem einzigen Corona-Toten.

Virologe Ricardo Palacios
"Klar, die Menschen wollen Karneval feiern. Aber der Blick nach Deutschland mahnt uns zur Vorsicht" - Ricardo PalaciosBild: Privat

"Brasilien hat seit mehr als fünf Jahrzehnten ein Impfprogramm, dass eine beneidenswert große Menge an Impfstoff zur Bevölkerung bringt. Der Erfolg Brasiliens hat zum einen mit den staatlichen Forschungseinrichtungen wie Butantan oder Fiocruz zu tun, zum anderen mit einer Bevölkerung, die dem Impfstoff vertraut. Und wir haben hier eine Gesellschaft, die mehr kollektiv als individualistisch wie in Europa denkt", sagt Palacios.

Impfbremser Bolsonaro

Der brasilianische Impferfolg ist um so erstaunlicher, weil die 212 Millionen Einwohner von einem der größten Corona-Verharmloser weltweit regiert werden: Jair Bolsonaro, für den COVID-19 ein "Schnüpfchen" ist, der sich über Maskenträger lustig machte und ernsthaft behauptete, durch Impfungen könnten sich Menschen in Krokodile verwandeln. Der rechtsextreme Präsident war es auch, der Verträge mit dem Hersteller Pfizer monatelang blockierte.

Jair Bolsonaro
Brasiliens Präsident Bolsonaro fällt immer wieder mit steilen Thesen zu Corona und zur Impfung aufBild: Mateus Bonomi/AA/picture alliance

"Seit Beginn der Pandemie wurde Corona leider hier immer wieder politisiert. Wir haben uns zwar in den letzten Monaten bei den Impfungen stark verbessert, aber wir haben eben auch einen Präsidenten und auch noch viele Behörden und Ärzte, die die Wirkung des Impfstoffes immer noch anzweifeln", sagt Julival Ribeiro.

"Team Vorsicht" mahnt vor zu schnellen Öffnungen

Der Virologe arbeitet bei der Sociedade Brasileira de Infectologia, kurz SBI, und kämpft seit Beginn der Pandemie unermüdlich gegen Wissenschaftsleugner wie Bolsonaro an. Ribeiro scheint den Kampf gewonnen zu haben: in Brasilien werden sogar Theater, Museen oder Supermärkte zu Impfzentren umfunktioniert und dafür Straßen gesperrt. Weil bei einer Quote von einem Toten auf 350 Einwohner beinahe jeder Brasilianer eine Person aus seinem näheren Umfeld verloren hat, lassen sich inzwischen auch Anhänger des Präsidenten mittlerweile in Scharen impfen.

Virologe Julival Ribeiro
"Was in Europa mit den ganzen Massenveranstaltungen passiert, sollte uns eine Lehre sein" - Julival RibeiroBild: Privat

"Wir brauchen jetzt schnell die Zulassung des Impfstoffes für die 5- bis 11-Jährigen", fordert Ribeiro. Brasilien hat, im Gegensatz zu Deutschland, die Booster-Impfungen schon lange durchgeplant, von Problemen bei der Terminvergabe hat man noch nie gehört. Jahr für Jahr schafft es das Land, im Rekordtempo von sechs Wochen 80 Millionen Menschen gegen Grippe zu impfen. Doch der Virologe warnt trotzdem davor, sich die schönen Erfolge nicht durch den Karneval kaputt machen zu lassen.

Wenn Karneval, dann mit Impfpass

"Solange alle Staaten dieser Welt die Pandemiebekämpfung nicht als gemeinschaftliche Aufgabe begreifen, werden wir immer wieder auf neue Corona-Wellen reagieren müssen. Meine Befürchtung ist, dass irgendwann eine Variante auftaucht, die unseren Impfstoffen ausweichen kann. Und dann müssen wir wieder ganz von vorne anfangen."

Der Karneval in Rio steht also auch 2022 auf der Kippe, selbst wenn Politiker wie der Gesundheitsminister der Stadt, Daniel Soranz, die Hoffnung partout nicht aufgeben wollen. Vollmundig kündigte er vor kurzem die größte Karnevalsfeier der Geschichte an. Eins machte Soranz aber unmissverständlich klar: wenn die Megaparty tatsächlich stattfindet, wird jeder Besucher neben einer Verkleidung noch etwas anderes benötigen: einen Impfpass.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur