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PolitikBelarus

Sergej Tichanowski: Vom Blogger zum Aktivisten

Bogdana Alexandrowskaja | Marina Baranovska
14. Dezember 2021

Der belarussische Youtube-Blogger Sergej Tichanowski wurde zu 18 Jahren Strafkolonie verurteilt. Die DW geht der Frage nach, wie er in die Politik kam und und warum er als politischer Gefangener eingestuft wurde.

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Weißrusslad Minsk | Sergej Tichanowskij - Weißrussischer oppositioneller Blogger im DW Interview
Sergej TichanowskiBild: DW/A. Boguslawskaja

Seit mehr als anderthalb Jahren sitzt Sergej Tichanowski in Belarus in Untersuchungshaft. Jetzt ist der Videoblogger und Ehemann von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zu 18 Jahren Strafkolonie mit verschärfter Anstaltsordnung verurteilt worden. Die Justiz des autoritär regierten osteuropäischen Landes hatte ihm unter anderem vorgeworfen, Massenunruhen in Belarus organisiert zu haben und über seine Kanäle auf Youtube und im Telegram soziale Feindschaft in der Gesellschaft angefeuert zu haben. 

Das Gerichtsverfahren begann am 24. Juni 2021 und fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Bis zum Ende des Prozesses blieben Details unbekannt: Die Anwälte verpflichteten sich zur Geheimhaltung, und die Angehörigen durften den Gerichtssaal nicht betreten.

"Der Diktator rächt sich öffentlich an seinen stärksten Gegnern", twitterte Swetlana Tichanowskaja gleich nach der Urteilverkündung. "Während er die politischen Gefangenen in geschlossenen Prozessen versteckt, hofft er, die Repressionen im Stillen fortzusetzen. Aber die ganze Welt schaut zu. Wir werden nicht aufhören", so die Oppositionelle, die in Litauen im Exil lebt.

Blogger, Unternehmer, Oppositioneller

Als Sergej Tichanowski im vergangenen Frühjahr auf der politischen Bühne in Belarus auftauchte, war es für viele im Land eine Überraschung. Die ersten Medienberichte über ihn im Mai 2020 bezogen sich auf ein Video auf seinem Youtube-Kanal "Das Land fürs Leben", in dem er ankündigte, bei den Wahlen am 9. August 2020 für das Präsidentenamt zu kandidieren.

Der 43-Jährige beschrieb sich auf seinem Youtube-Kanal selbst als "belarussischer Unternehmer und Blogger". Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung hatte sein Kanal etwa 140.000 Abonnenten. Zusammen mit seinen Anhängern fuhr Tichanowski in einem Auto mit dem Logo "Real News" durch Belarus, traf sich mit Menschen aus dem Land und nahm ihre Geschichten über das Leben in der Provinz und in den Großstädten mit der Kamera auf. Der Blogger filmte auch Interviews mit Oppositionspolitikern und Geschäftsleuten.

Inzwischen ist die Zahl seiner Abonnenten auf 311.000 gestiegen. Im Juli 2021 erklärten die belarussischen Behörden den namensgleichen Telegram-Kanal von Tichanowski für extremistisch.

Sergej Tichanowski in Minsk im Mai 2020
Sergej Tichanowski in Minsk im Mai 2020Bild: picture-alliance/TASS/N. Fedosenko

Bevor er 2019 seinen Youtube-Kanal startete, hatte Tichanowski eine eigene Firma zur Videoproduktion. Zum Blogger sei er nach einem Austausch mit Journalisten über die "Gesetzlosigkeit der Behörden und kriminelle Fahrlässigkeit" geworden, so der Belarusse. Er habe beschlossen, für das Präsidentenamt zu kandidieren, nachdem er von seinen Abonnenten dazu aufgefordert worden sei. "Sie haben keinen einzigen Kandidaten gesehen, dem sie folgen und vertrauen könnten", sagte Tichanowski in einer Videobotschaft.

Tichanowskis Frau als Präsidentschaftskandidatin

Präsidentenschaftskandidat ist er aber nicht geworden. Die zentrale Wahlkommission verweigerte Tichanowski die Annahme seiner Unterlagen: Zum Zeitpunkt der Registrierung war er unter Arrest - wegen Teilnahme an Protestaktionen gegen die belarussische Integration mit Russland im Dezember 2019. Daraufhin  reichte anstelle ihres Ehemans Swetlana Tichanowskаja ihre Unterlagen für die Registrierung als Präsidentschaftskandidatin ein.

Die Nachricht sei für ihn ein Schock gewesen, so Tichanowski in einem Interview mit der Deutschen Welle am 20. Mai 2020 - wenige Stunden nachdem er unerwartet aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Seine Frau sollte ursprünglich nur eine nominelle Rolle im Wahlkampf spielen und legitime Gelegenheiten nutzen, um sich mit den Belarussen zu treffen und sie davon zu überzeugen, die Wahl zu boykottieren.

Swetlana Tichanowskaja zeigt ein Bild von ihren Ehemann Sergej Tichanowski
Swetlana Tichanowskaja zeigt ein Bild von ihren Ehemann Sergej TichanowskiBild: Roman Vondrous/POOL/AFP via Getty Images

Im Nachhinein ist sie jedoch zur Anführerin der demokratischen Kräfte in Belarus und ernste Gegnerin des Machthabers Alexander Lukaschenko geworden. Von vielen wird sie als die wahre Wahlsiegerin gesehen. Nachdem Lukaschenko von der zentralen Wahlkommission zum Wahlsieger erklärt wurde, kam es zu den größten Protesten in der Geschichte von Belarus, die gewaltsam unterdrückt wurden. Swetlana Tichanowskaja musste ins Ausland fliehen. Die Wahl wird international nicht anerkannt. 

Weshalb ist Sergej Tichanowski nun angeklagt?

Nachdem Sergej Tichanowski am 20. Mai aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, befand er sich nur eine Woche lang auf freiem Fuß. In dieser Zeit beteiligte er sich aktiv am Wahlkampf seiner Frau Swetlana und nahm an Veranstaltungen teil, auf denen er Unterschriften für ihre Teilnahme an der Präsidentenwahl sammelte. Bei einer solchen Aktion am 29. Mai 2020 wurden Tichanowski und andere Oppositionelle festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, mithilfe von Youtube- und Telegram-Kanälen Ausschreitungen organisiert und sozialen Hass geschürt zu haben. Der Untersuchungsausschuss vermutete, dass "Tichanowskis Gruppe" aus 25 Personen bestand.

Belarus ein Jahr nach der Wahl

Seitdem ist Tichanowski in Untersuchungshaft. In einem schriftlichen DW-Interview aus der Haft sagte der Blogger, er erkenne die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht an und halte sie für "weit hergeholt und politisch motiviert". Belarussische Menschenrechtler haben ihn als einen politischen Gefangenen anerkannt. Die meisten Mitangeklagten im "Fall Tichanowski" sind bereits verurteilt worden. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten sind es etwa 30 Personen.