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Corona-Protest mutiert zu "Spaziergängen"

4. Januar 2022

Die Zeit der Großdemonstrationen scheint im Moment vorbei zu sein. Stattdessen ziehen immer mehr kleinere Gruppen deutschlandweit durch die Straßen. Oft unerlaubt und mitunter gewalttätig.

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Proteste gegen Corona-Maßnahmen | Rosenheim Bayern
Corona-Protest - getarnt als "Spaziergang" - in der bayrischen Stadt Rosenheim Bild: Alexander Pohl/aal.photo/imago images

Nicht nur das Virus mutiert andauernd, auch der Protest gegen die Corona-Politik verändert sich immer wieder. Die aktuellen Varianten der pandemischen Infektionskrankheit heißen Omikron oder B.1.640.2. Demonstrationen werden von ihren Initiatoren als "Spaziergang" bezeichnet. Klingt harmlos und friedlich, mündet aber zuweilen in Gewalt. Und oft sind die Versammlungen unangemeldet, also illegal.

50.000 protestieren im Kernland der "Querdenker"

Zum Jahresauftakt 2022 gab es am 3. Januar in allen Landesteilen dezentral organisierte Veranstaltungen. Mal zählte die Polizei wenige hundert Leute, mal einige tausend. Den mit Abstand größten Zulauf an verschiedenen Orten registrierte das im Südwesten der Republik gelegene Baden-Württemberg, wo auch die "Querdenken"-Bewegung ihren Ursprung hat: 50.000 Menschen sollen es nach Angaben des christdemokratischen Innenministers Thomas Strobl insgesamt gewesen sein. Thüringen im Osten meldete 16.000 Teilnehmer, Mecklenburg-Vorpommern im Norden 12.000.

Proteste gegen Corona-Maßnahmen |  Ravensburg Baden-Württemberg
Auch in Friedrichhafen (Baden-Württemberg) trafen sich "Spaziergänger" zum Protest gegen Corona-Maßnahmen Bild: Felix Kästle/dpa/picture alliance

Die meisten Aktionen verliefen nach Polizei-Angaben friedlich, vereinzelt aber wurden Beamte verletzt und Demonstranten festgenommen. Unter dem Eindruck solcher Ereignisse stellt sich fast jedes Mal die Frage, wie der Staat darauf reagieren soll? Eine pauschale Antwort gibt es nicht: Ob eine Versammlung erlaubt oder verboten wird, ist in jedem Einzelfall sorgfältig abzuwägen - und in einem Rechtsstaat anfechtbar. 

Seit dem Sturm auf den Reichstag hat sich der Blick verändert

Schon seit Beginn der Corona-Pandemie diskutiert Deutschland über den gesellschaftlichen und rechtlichen Umgang mit Protesten gegen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionskrankheit. Hintergrund: Die anfangs friedlichen Veranstaltungen wurden zunehmend von extremistischen Strömungen unterwandert. Die Bilder vom Sturm auf das Berliner Reichstagsgebäude, in dem der Bundestag residiert, lösten im August 2020 über die Grenzen Deutschlands hinaus Entsetzen aus.

Investigativ Team, DW Special zum Thema: QAnon Deutschland
August 2020: Sturm auf den Berliner Reichstag mit schwarz-weiß-roten Reichskriegsflaggen Bild: JeanMW/imago images

Die Versammlungsfreiheit ist neben freien Wahlen eines der wichtigsten demokratischen Grundrechte, daher gibt es auch kein pauschales Demonstrationsverbot. In Deutschland schreckt man auch vor dem Hintergrund der eigenen Diktatur-Erfahrung vor allzu schnellen und weitgehenden Einschränkungen zurück. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes, der deutschen Verfassung also, waren sich nach der Nazi-Zeit ihrer besonderen Verantwortung bei diesem sensiblen Thema bewusst. In Artikel 8 des Grundgesetzes heißt es deswegen:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Warum Gerichte ein Verbot in Berlin kippten

Wenn ein Streitfall vor Gericht landet, spielt meistens Paragraf 15 eine wichtige Rolle. Demnach sind Auflagen oder als letztes Mittel Verbote möglich, "wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist". Darauf berief sich 2020 die Berliner Polizeipräsidentin, als sie eine geplante Großdemonstration untersagte.

Investigativ Team, DW Special zum Thema: QAnon Deutschland
Querdenker und Andere demonstrieren im August 2020 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die Corona-Politik Bild: SULUPRESS.DE/picture alliance/dpa

Als abschreckendes Beispiel verwies sie auf die erste große Protestveranstaltung in der deutschen Hauptstadt, als die meisten ohne Maskenschutz und oft dicht gedrängt unterwegs waren. Darin sah sie eine allgemeine Gefahr für die Gesundheit und schlussfolgerte: "Das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit überwiegt in der gebotenen Rechtsgüterabwägung das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit."

Im Zweifelsfall oft für die Meinungsfreiheit

Die Gerichte kamen in zwei Instanzen zu einer anderen Einschätzung und erlaubten die Proteste. Erforderlich sei im konkreten Fall eine auf "Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten" beruhende Gefahrenprognose. Ein "bloßer Verdacht oder Vermutungen" seien nicht ausreichend.

Außerdem verwiesen die Richter auf die Infektionsschutzverordnung des Landes Berlin. Darin gab es damals keine Beschränkung der Teilnehmerzahl. Eine Mund-Nasen-Bedeckung war nur "erforderlichenfalls" vorgeschrieben. Mit anderen Worten: Wenn die Einhaltung eines Mindestabstands unmöglich gewesen wäre.

Deutschland Berlin | Coronavirus | Querdenken-Protest
Feindbild von Corona-Verharmlosern und -Leugnern: Virologe Christian Drosten von der Berliner CharitéBild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

Theoretisch aber hätte der Abstand von den Demonstranten in den weitläufigen Straßen und auf den großen Plätzen Berlins problemlos eingehalten werden können. Es kam anders. Deshalb löste die Polizei den ersten Demonstrationszug auf. Eine Maßnahme, die in den Überlegungen der Gerichte mit bedacht wurde.

Mutmaßungen über die Gesinnung dürfen keine Rolle spielen

Wegen der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit dürften keine "zu geringen Anforderungen" an die Gefahrenprognose gestellt werden. Zumal "noch die Möglichkeit einer späteren Auflösung" bleibe, wenn sich Demonstranten nicht an die Regeln halten. Genau das ist damals in Berlin geschehen und wiederholte sich auf späteren gewalttätigen Versammlungen.

Deutschland Coronavirus l  Proteste gegen die Impfpflicht in München
Keine Seltenheit: gewalttätige Auseinandersetzungen auf Demonstrationen gegen Corona-MaßnahmenBild: Sachelle Babbar/Zuma Wire/imago images

Auch in einem anderen Punkt widersprachen die Gerichte schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Berliner Polizei. Die hatte ihr Verbot zusätzlich damit begründet, bei vorangegangenen Corona-Demos habe die Zusammensetzung vom "bürgerlichen Klientel bis hin zu Angehörigen rechtsextremer Gruppierungen" gereicht.

In Deutschland gilt aber Meinungsfreiheit, sie ist in Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert. Darauf nahmen die Gerichte indirekt Bezug: "Solange keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich die Äußerungen der Teilnehmer im strafrechtlich relevanten Bereich bewegen, steht dies der Durchführung einer solchen Versammlung nicht entgegen."

Das Gewaltmonopol liegt beim Staat

Unter dem Eindruck des Sturms auf den Reichstag und weiterer gewalttätiger Proteste hat die Zahl der Versammlungsverbote indes zugenommen. Denn trotz entsprechender Auflagen durch Gerichte gelingt es den Veranstaltern oft nicht, Ausschreitungen zu verhindern. Vor allem der Angriff auf den Sitz des Bundestages dürfte dazu geführt haben, dass Versammlungsverbote seitdem häufiger von Gerichten bestätigt wurden.

Auf diese Entwicklung, so scheint es, reagiert die sehr unterschiedliche Szene aus Gegnern der Corona-Politik sowie Verharmlosern und Leugnern der Pandemie mit sogenannten Spaziergängen. Diese Form des quer durchs Land gestreuten, eher kleinteiligen Protests stellt Justiz und Polizei vor neue Herausforderungen.

Am Ende bleibt ihnen nur das, was im Rechtsstaat grundsätzlich gilt: Sie prüfen, was für eine Genehmigung oder ein Verbot spricht. Wenn gegen Regeln und Gesetze verstoßen wird, besteht jederzeit die Möglichkeit einzuschreiten. Denn der Staat hat das Gewaltmonopol, das er im Idealfall mit friedlichen Mitteln durchsetzt.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte – Schwerpunkt: Deutschland