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Politik

Aktuell: Steinmeier trifft Klitschko und Selenskyj

25. Oktober 2022

Der Bundespräsident kommt in der Ukraine mit den Politikern zusammen, sucht aber auch den Kontakt mit der vom Krieg gezeichneten Bevölkerung. In Berlin berieten Experten über den Wiederaufbau des Landes. Der Überblick.

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Bürgermeister Vitali Klitschko zeigt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Kriegsschäden in Kiew
Bürgermeister Vitali Klitschko zeigt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Kriegsschäden in Kiew Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Bundespräsident Steinmeier besucht Kiew und Korjukiwka
  • G7-Staaten und EU wollen Ukraine mit "Marshallplan" helfen
  • Lindner will mehr Geld für Militärhilfe bereitstellen
  • Debatte über russische Vorwürfe zu "schmutziger Bombe" der Ukraine hält an
  • Ukraine meldet Gebietsgewinne im Nordosten des Landes

 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich in Kiew mit Bürgermeister Vitali Klitschko getroffen. Er ließ sich von diesem die Folgen der jüngsten russischen Luftangriffe zeigen, zum Beispiel ein zerstörtes Wohnhaus. "Das ist ein historisches Zentrum. Hier gibt es kein Militär", kommentierte Klitschko trocken. Es habe auch Treffer auf einem Kinderspielplatz gegeben. "Zum Glück waren keine Kinder da." Der prominente Bürgermeister berichtete zudem von Angriffen auf die Energie-Infrastruktur. Deswegen müssten auch viele Bewohner der ukrainischen Hauptstadt im Winter frieren.

Am Abend kam Steinmeier auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammen. Dabei dankte Selenskyj für die Unterstützung durch Deutschland. Damit trage die Bundesrepublik zum Frieden in der Ukraine bei. Selenskyj erwähnte insbesondere die Lieferung des Flugabwehrsystems Iris-T. Er hoffe, dass davon weitere Systeme kommen würden. Dies habe für sein Land "wirklich Priorität". Selenskyj würdigte auch die Bereitschaft Deutschlands, die Energie-Resilienz der Ukraine zu stärken. Große Teile der Strom- und Fernwärme-Netze sind durch russische Raketenangriffe beschädigt worden. Steinmeier betonte seinerseits, er habe gerade angesichts der "niederträchtigen Angriffe" Russlands in die Ukraine kommen wollen.

Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj trifft in Kiew mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen
Letzter Termin des Bundespräsidenten am Dienstag in Kiew: das Treffen mit dem ukrainischen Staatschef SelenskyjBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Steinmeier war am Morgen mit dem Zug in Kiew eingetroffen. "Meine Botschaft an die Ukrainerinnen und Ukrainer ist: Wir stehen nicht nur an eurer Seite, sondern wir werden die Ukraine auch weiterhin unterstützen - wirtschaftlich, politisch und auch militärisch", betonte der Bundespräsident nach seiner Ankunft. Und seine Botschaft an die Deutschen laute: "Vergessen wir nicht, was dieser Krieg für die Menschen hier (...) bedeutet, wie viel Leid, wie viel Zerstörung herrscht." Steinmeier sagte, er schaue "voller Bewunderung" auf die Bewohner des Landes und deren Mut, "auf ihre Unbeugsamkeit, die sie zeigen - nicht nur an der Front, sondern auch in den Städten, die beschossen werden, und auch im ländlichen Raum".

Anderthalb Stunden in einem Luftschutzkeller

Während eines Besuches in der nordukrainischen Stadt Korjukiwka musste Steinmeier wegen eines Luftalarms anderthalb Stunden in einem Luftschutzkeller verbringen. "Das hat uns besonders eindrücklich nahegebracht, unter welchen Bedingungen die Menschen hier leben", sagte der Bundespräsident anschließend. Korjukiwka war zu Beginn des Angriffskrieges von russischen Truppen besetzt gewesen. Die Besatzer haben sich zurückgezogen, aber die Stadt kämpft vor dem hereinbrechenden Winter mit zerstörter Infrastruktur und Versorgungsengpässen. Steinmeier erinnerte auch an die Opfer eines 1943 von der deutschen Wehrmacht und SS in Korjukiwka verübten Massakers, bei dem mehr als 6700 Männer, Frauen und Kinder ermordet worden waren.

Selbst wohl für den Ex-Außenminister eine neue Erfahrung: Steinmeier muss in einem Luftschutzkeller ausharren
Selbst für den Ex-Außenminister wohl eine neue Erfahrung: Steinmeier muss in einem Luftschutzkeller ausharren Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Absage beim ersten Anlauf

Es ist der erste Besuch des Staatsoberhaupts in der Ukraine seit Beginn des Krieges im Februar. Die ursprünglich für die vergangene Woche angesetzte Reise konnte aus Sicherheitsgründen erst jetzt stattfinden. Eigentlich wollte Steinmeier bereits Mitte April nach Kiew reisen - zusammen mit den Staatspräsidenten Polens, Lettlands, Litauens und Estlands. Die Initiative hierfür war von Polens Präsident Andrzej Duda ausgegangen. Unmittelbar vor dem Start kam aus Kiew aber eine Absage für Steinmeier.

Die Ausladung wurde in Berlin als beispielloser Affront gewertet. Erst ein Telefongespräch beider Präsidenten Anfang Mai entspannte die Lage wieder. Steinmeier und Selenskyj wollen nun nach Angaben des Bundespräsidialamts einen gemeinsamen Appell an deutsche Städte und Gemeinden richten, kurzfristig neue Partnerschaften mit ukrainischen Kommunen zu schließen, um den Menschen dort zu helfen. Viele Bewohner werden im herannahenden Winter unter den Folgen zerstörter Energieinfrastruktur infolge russischer Angriffe zu leiden haben.

Ukraine, Mykolaiv | Oleksandr Shulga steht vor seinem zerstörten Haus
Ein Anwohner betrachtet in der Stadt Mykolaiv sein durch einen russischen Angriff zerstörtes HausBild: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images

Berliner Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine 

Die G7-Länder und die Europäische Union haben gemeinsam einen "Marshallplan" für den Wiederaufbau der Ukraine auf den Weg gebracht. Eine von Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geleitete Expertenkonferenz in Berlin gab das Startsignal für ein solches Programm nach dem Vorbild der US-Hilfen für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Scholz nannte den Wiederaufbau eine "Generationenaufgabe, mit der man jetzt beginnen muss". Von der Leyen sagte: "Wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine jederzeit die Unterstützung bekommt, die sie braucht." Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal war aus Kiew angereist. Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde per Video zugeschaltet und warb für rasche internationale Investitionen. Konkrete finanzielle Zusagen wurden bei dem Treffen, das bewusst nicht als Geberkonferenz angelegt war, nicht gemacht. Der G7-Gruppe gehören neben Deutschland auch Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und Großbritannien an.

Lindner will mehr Geld für Militärhilfe bereitstellen

Bundesfinanzminister Christian Lindner will im kommenden Jahr die finanziellen Mittel zur militärischen Unterstützung der Ukraine erhöhen. Sie sollen auf mindestens zwei Milliarden Euro im nächsten Jahr steigen. Bisher seien im Haushaltsentwurf rund 800 Millionen Euro vorgesehen. Konkret geht es um militärische "Ertüchtigungshilfe". Wie das Ministerium auf Twitter schrieb, traf sich Lindner mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Schmyhal und Finanzminister Serhiy Marchenko.

Bundesfinanzminister Christian Lindner zum Inflationsausgleichsgesetz FDP
Bundesfinanzminister Christian LindnerBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und Außenministerin Annalena Baerbock hatten zuvor in einem Brief an Lindner für das kommende Jahr deutlich mehr Geld für die militärische Unterstützung der Ukraine gefordert als bisher geplant. Im laufenden Haushalt sind demnach Ausgabenmittel in Höhe von zwei Milliarden Euro veranschlagt.

"Der Staat muss funktionieren"

Kiew wünscht sich von Deutschland einen monatlichen Zuschuss von einer halben Milliarde Dollar (506 Millionen Euro). "Der Staat muss funktionieren, die Renten müssen ausgezahlt werden", begründete der Wirtschaftsberater des Präsidenten, Alexander Rodnyansky, in den Funke-Medien den Vorstoß. Für den laufenden Haushalt brauche das Land jeden Monat vier bis fünf Milliarden Dollar. Von der EU insgesamt erhoffe sich die ukrainische Regierung rund zwei Milliarden Dollar pro Monat.

Die Weltbank unterstützt die Ukraine mit der zusätzlichen Auszahlung von 500 Millionen Dollar. Vor dem herannahenden Winter sei die Bevölkerung weiter gefährdet, erklärte Weltbank-Chef David Malpass. Die internationale Institution hat insgesamt 13 Milliarden Dollar an Soforthilfe für Kiew mobilisiert, von denen 11,4 Milliarden Dollar bereits ausgezahlt wurden.

Moskau bringt Vorwürfe zu "schmutziger Bombe" vor UN-Sicherheitsrat

Russland bringt seine Vorwürfe, die ukrainische Regierung wolle eine atomar verseuchte Bombe zünden, vor den UN-Sicherheitsrat. Eine entsprechende Aussprache des mächtigsten UN-Gremiums hinter verschlossenen Türen soll an diesem Dienstag nach einem Treffen zum Konflikt in Syrien stattfinden. Das verlautete aus Diplomatenkreisen in New York.

Russland hält an der Anschuldigung fest, die Ukraine plane den Einsatz einer "schmutzigen" radioaktiven Bombe in dem Krieg, um Moskau weitere Kriegsverbrechen anzulasten. Darauf gibt es nach Einschätzung westlicher Experten keinerlei Hinweise. Die Ukraine sowie die USA, Frankreich und Großbritannien wiesen die Behauptung zurück. Außenminister Sergej Lawrow hatte erklärt, es gebe "konkrete Informationen zu den Instituten in der Ukraine, die über entsprechende Technologien verfügen, solch eine 'schmutzige Bombe' zu bauen".

Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, sagte, an der russischen Behauptung sei absolut nichts dran. "Wir wissen, dass es nicht wahr ist", sagte Kirby. "Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass die Russen gelegentlich andere für Dinge verantwortlich gemacht haben, die sie vorhatten zu tun."

NATO-Generalsekretär schaltet sich in Debatte ein

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Russland aufgefordert, seine "falsche Behauptung" zu einer nuklear verseuchten Bombe nicht als Vorwand für eine weitere Eskalation des Kriegs gegen die Ukraine zu nutzen. Die Verbündeten wiesen Moskaus Aussage zurück, dass die Ukraine den Einsatz einer sogenannten schmutzigen Bombe auf eigenem Gebiet vorbereite, schrieb der Norweger auf Twitter. "Russland darf sie nicht als Vorwand für eine Eskalation benutzen."

DW-Interview NATO-Generalsekretär Stoltenberg Conflictzone
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, hier in einem DW-InterviewBild: DW

Zuvor hatte Stoltenberg eigenen Angaben zufolge mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin und dessen britischen Kollegen Ben Wallace gesprochen. Der Generalsekretär betonte, die NATO-Unterstützung für die Ukraine sei unerschütterlich.

Acht Monate Krieg: Selenskyj attestiert Russland Versagen

Acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges hat der ukrainische Präsident Selenskyj Moskau ein Versagen auf breiter Front attestiert. "Die Ukraine bricht die sogenannte zweitstärkste Armee der Welt", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. Mit Blick auf den Kriegsbeginn am 24. Februar betonte der Präsident, dass Russlands militärischer Einfluss heute verpufft sei. "Das Gefühl einer Niederlage in Russland wird stärker", so Selenskyj. Das Land habe einmal politisches Gewicht gehabt, heute werde es international zunehmend isoliert. Russland müsse etwa den Iran um Drohnen "anbetteln" und erfinde "verschiedenen Unsinn" über die Ukraine, um vom Westen Zugeständnisse zu erreichen, sagte der Präsident.

Selenskyj betonte einmal mehr, dass die Ukraine den russischen Angriffen zum Trotz ihre Unabhängigkeit verteidigt habe und ihre besetzten Gebiete jeden Tag weiter befreie. Das ganze Land - auch die von Russland 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim - werde frei sein, betonte er.

Kiew an Flüchtlinge: Bleibt über den Winter im Ausland!

Wegen der Kriegsschäden an Strom- und Wärmeversorgung der Ukraine bittet die Regierung geflüchtete Frauen und Männer, erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren. "Wenn sich die Möglichkeit bietet, bleiben Sie und verbringen Sie den Winter im Ausland!", sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in Kiew im landesweiten Fernsehen. Die Energiesysteme seien durch die russischen Angriffe instabil. "Wir müssen diesen Winter überleben." Im kommenden Frühjahr freue sie sich aber auf viele Heimkehrer, um Zerstörtes wieder aufzubauen und die Kinder auf ukrainische Schulen zu schicken.

USA: Keine Verhandlungen mit Russland ohne die Ukraine

Das Weiße Haus in Washington hat bekräftigt, dass die USA keine direkten Friedensverhandlungen mit Russland ohne Beteiligung Kiews führen werden. Das habe man von Anfang an gesagt, "und das bleibt der Ansatz", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. Aus US-Sicht hätten nur die Ukrainer über Verhandlungen zu entscheiden. Der ukrainische Präsident Selenskyj sei der Ansicht, dass es nicht an der Zeit sei, eine Vereinbarung mit Kremlchef Wladimir Putin auszuhandeln. "Wir respektieren seine Meinung dazu", sagte Kirby. "Wir werden uns darauf fokussieren, dass er und seine Truppen auf dem Schlachtfeld erfolgreich sind" - so dass Selenskyj dann auch bei eventuellen Gesprächen erfolgreich sein könne.

Zuvor hatten 30 Abgeordnete der Demokratischen Partei von US-Präsident Joe Biden in einem Brief an das Weiße Haus angeregt, die Tür für direkte Verhandlungen mit Moskau offenzuhalten, um ein rascheres Ende des Krieges zu erreichen.  Zu Amerikas Verantwortung gehöre es, auf diplomatischem Wege eine Lösung zu suchen, die für das ukrainische Volk annehmbar wäre. Zu einem solchen Rahmen könnten eine Lockerung der Sanktionen und Sicherheitsgarantien für eine freie und unabhängige Ukraine gehören, "die für alle Parteien akzeptabel sind, insbesondere die Ukrainer". Es ist das erste Mal, dass eine größere Gruppe demokratischer Kongressmitglieder Änderungen an der Ukraine-Politik anregt.

Kherson: Langsames Vorrücken an der Frontlinie

Ukraine meldet Gebietsgewinne im Nordosten des Landes

Das ukrainische Militär gab an, russische Einheiten aus mehreren Dörfern im Nordosten des Landes vertrieben zu haben. "Dank erfolgreicher Aktionen haben unsere Soldaten den Feind aus den Ortschaften Karmasynikwa, Mjasoschariwka und Newske in der Region Luhansk sowie Nowosadowe in der Donezk-Region gedrängt", hieß es in einer Erklärung.

Seit Beginn der Invasion in Februar hat Russland nach britischer Darstellung mindestens 23 Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 (NATO-Code: Hokum-B) verloren. Das entspreche mehr als einem Viertel der in Betrieb befindlichen Ka-52-Flotte und fast der Hälfte der gesamten Hubschrauberverluste Russlands in der Ukraine, teilte das Verteidigungsministerium in London unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit.

Die russischen Kampfhelikopter würden vor allem von sogenannten Manpads, also tragbaren Flugabwehrsystemen, zerstört, hieß es in London. Zudem hätten sie weniger Schutz durch Kampfjets als eigentlich in der russischen Militärdoktrin vorgesehen sei. Russland sei nach wie vor nicht in der Lage, eine effektive Luftunterstützung zu gewährleisten, urteilte das britische Ministerium. Zudem gehe die Artilleriemunition zur Neige.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht täglich Meldungen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.

sti/qu/jj/ehl/kle/mak (dpa, afp, rtr)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.