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Politik

Russland will "LGBT-Propaganda" verbieten

Sergey Satanovskiy
27. Oktober 2022

Die russische Staatsduma hat in erster Lesung einen Gesetzesentwurf beschlossen, der "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" in Russland vollständig verbietet. Was ist damit gemeint?

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Russland Das Unterhaus des russischen Parlaments
Blick in die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments in MoskauBild: Russian State Duma/REUTERS

LGBTQ+-Community in Russland unter Druck

In erster Lesung haben alle 400 anwesenden Abgeordneten der russischen Staatsduma, die 450 Sitze hat, einen Gesetzentwurf  gebilligt, der "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" vollständig verbietet. Die Parlamentssitzung fand hinter verschlossenen Türen statt, weil es seit dem 18. Oktober keine Videoübertragungen aus der Staatsduma mehr gibt. Die zweite Lesung des Entwurfs ist für November geplant.

Vor der Sitzung des Unterhauses erzählte die Kommunistin und Mitautorin des Gesetzentwurfs, Nina Ostanina, sie habe einen Brief vom Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, erhalten, der den Entwurf unterstütze. Die Duma reagiere mit dem Gesetz, so sagt sie, auf einen ideologischen Krieg, der gegen Russland geführt würde.

Symbolbild Kriminalisierung Homosexualität Russland
Ein LGBT-Aktivist hinter Gittern während eines Protestes in Moskau gegen HomophobieBild: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Bereits 2013 hatte die Staatsduma ein gesetzliches Verbot  von "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" verabschiedet, das sich aber auf Minderjährige beschränkte. Nun soll es auf erwachsene Bürgerinnen und Bürger in Russland ausgeweitet werden. Dafür sollen gleich mehrere bestehende Gesetze geändert werden: Die Gesetze "Über Informationen", "Über die Medien", "Über die staatliche Förderung von Filmen" und "Über Werbung" sowie das Gesetz "Zum Schutz von Kindern vor schädlichen Informationen".

Weitere Verbote und höhere Bußgelder

Insbesondere Nachrichtenplattformen und Online-Diensten soll künftig untersagt werden, Material zu verbreiten, das "nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und (oder) Neigungen" fördert. Das von den russischen Behörden erstellte Register dieser Anbieter enthält bislang vier Dienste: Yandex News, News@mail.ru, Rambler News und SMI2.

Dasselbe Verbot gilt für audiovisuelle Dienste. Dazu gehören zum Beispiel die Online-Dienste "Kinopoisk", "Amediateka" und "START". Eigentümern von Medien und sozialen Netzwerken sollen ähnliche Beschränkungen auferlegt werden. Die Gesetzgeber beabsichtigen auch, die Vorführung und den Verleih von Filmen zu verbieten, die angeblich entsprechende "Propaganda" enthalten.

Russische Suchmaschine Yandex
Yandex News steht auf der Liste der russischen BehördenBild: imago/A. Belitsky

Noch mehr Einschränkungen betreffen Werbung und Material, das keiner Altersbeschränkung unterliegt. Der Gesetzentwurf verbietet demnach nicht nur "Propaganda". Auch "nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und Neigungen" dürfen künftig weder in Werbung noch in Material vorkommen, das für Kinder zugänglich ist.

Zudem werden die Strafen für Verstöße gegen das Verbot von "LGBT-Propaganda" verschärft. Einzelpersonen müssen künftig mit einer Geldstrafe von bis zu 400.000 Rubel (ca. 6500 Euro) rechnen. Unter erschwerenden Umständen, bei "Propaganda" für Minderjährige über das Internet oder Medien, drohen privaten Personen Geldstrafen von umgerechnet bis zu 13.000 Euro und juristischen Personen bis zu 162.000 Euro. Per Gerichtsbeschluss kann auch ein Unternehmen, das gegen dieses Gesetz verstößt, bis zu 90 Tage geschlossen werden.

Buchverlage und Veranstalter in Sorge

Der Russische Buchverband (RKS) hatte vor der ersten Lesung des Gesetzentwurfs in einem Brief an den Abgeordneten Alexander Chinschtejn gewarnt, eine Billigung durch die Duma würde unvorhersehbare Folgen haben. Im Brief sind Werke der russischen Literatur aufgelistet, die Momente enthalten, die im Sinne der Gesetzesänderungen mehrdeutig ausgelegt werden könnten, darunter der Ehebruch in Lew Tolstois "Anna Karenina", die sexuelle Gewalt in Michail Scholochows "Der stille Don" und die "Pädophilie" in Wladimir Nabokows "Lolita".

"Angesichts des weiten Geltungsbereichs des Gesetzentwurfs sind Verlage nicht in der Lage, Bücher, die möglicherweise gegen diesen verstoßen, unabhängig zu bewerten und auszuschließen", so der Russische Buchverband. Der Abgeordnete Chinschtejn antwortete, dass man sich um die genannten literarischen Werke keine Sorgen machen sollte. Ihnen drohe "keine Revision oder Überarbeitung".

Die Organisatoren des Side by Side LGBT-Filmfestivals, das jeden Herbst in Sankt Petersburg stattfindet, fordern im Gegenzug, Gesetze aufzuheben, die die Rechte von LGBT+-Personen verletzen. "Es ist noch unklar, wie genau dieses Gesetz funktionieren soll. Es wird sich aber definitiv auf die Filmindustrie, die Medien, Websites und soziale Netzwerke und möglicherweise auch auf verschiedene Festivals, Ausstellungen und Theater sowie das Buchgeschäft, Streaming-Dienste und Konzerte auswirken", heißt es in einer Mitteilung.

Opfer des Kreml-Regimes

Seit dem vor neun Jahren verhängten "Verbot von Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen unter Minderjährigen" wurden sowohl unbekannten Aktivisten als auch bekannten Bloggern und großen Unternehmen Verstöße vorgeworfen. Beispielsweise wurde die lokale Aktivistin Yulia Tsvetkova 2019 in Komsomolsk am Amur mit einer Geldstrafe belegt, weil sie LGBT-freundliche Gruppen in sozialen Netzwerken verwaltete.

2021 verhängte das Gericht eine Geldstrafe in Höhe von einer Million Rubel (ca. 16.000 Euro) gegen den Fernsehsender MUZ, weil in einer Sendung der Blogger Danya Milokhin in einem Smoking-Kleid aufgetreten war. In diesem Jahr wurde der Journalist Yury Dud von einem Moskauer Gericht zu einer Geldstrafe von umgerechnet 2000 Euro verurteilt, weil er mit dem offen schwul lebenden Künstler und Regisseur Fjodor Pawlow-Andrejewitsch ein Interview geführt hatte.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk