1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Republik Moldau - Sein oder Nichtsein?

Vitalie Ciobanu
21. Dezember 2022

2022 war geprägt vom Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Jahr, in dem wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt haben: Hat die Republik Moldau noch Bestand als freier, demokratischer und europäischer Staat?

https://p.dw.com/p/4LH5N
Republik Moldau - Chisinau
Triumphbogen und orthodoxe Kathedrale in der moldauischen Hauptstadt ChisinauBild: blickwinkel/IMAGO

Das Ende des Jahres 2022 rückte eine mutige Tat der Regierung in Chisinau ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die Aussetzung der Lizenzen von sechs pro-russischen TV-Sendern in der Republik Moldau. Einige dieser Sender sind im Besitz des flüchtigen Oligarchen Ilan Shor, der in erster Instanz zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Geldwäsche und Bankbetrugs verurteilt wurde (aufgrund seiner Verwicklung in den Diebstahl von rund einer Milliarde Dollar aus dem moldauischen Bankensytem). Andere gehören Personen, die mit der sozialistischen pro-russischen Oppositionspartei in Verbindung stehen.

Es war die Entscheidung der Kommission für außergewöhnliche Situationen, die argumentierte, dass diese sechs Sender mehrfach gegen den Kodex für audiovisuelle Dienste verstoßen hätten. Nachrichten über den Krieg in der Ukraine seien auf tendenziöse und manipulative Weise präsentiert worden, bis hin zu offener Propaganda für Putins Aggression. "Zensur! Zensur!", wetterten die sanktionierten Fernsehsender und beklagten eine Verletzung der Meinungsfreiheit. Das russische Außenministerium warf der moldauischen Führung die "zynische Verletzung der Rechte nationaler Minderheiten" vor.

Vitalie Ciobanu
Der moldauische Autor und Publizist Vitalie CiobanuBild: Privat

Der alte russische Trick wird wiederholt: Moskau erinnert sich erst dann an die Menschenrechte, wenn es wegen der Missachtung dieser Rechte zur Verantwortung gezogen wird. Und Russland - der große "Beschützer" der nationalen Minderheiten auf seinem Territorium, die, wenn sie nicht deportiert werden, wie Stalin es mit den Tschetschenen, den Krimtataren oder den Rumänen in Bessarabien getan hat, heute unter Putin zum Kanonenfutter werden in einem Vernichtungskrieg gegen freiheitsliebende Ukrainer -, dieses Russland vergießt Krokodilstränen des "Mitleids" für die russische Minderheit, die fortan ohne Kriegspropaganda auskommen muss. Gleichzeitig dreht Russland der Republik Moldau, einschließlich der russischsprachigen Moldauer, Gas und Strom ab, um die Antikriegshaltung dieses Staates zu bestrafen.

Moldauische Reaktionen auf die Blockierung pro-russischer Propaganda  

In Chisinau sind die Reaktionen auf die Abschaltung der TV-Sender unterschiedlich ausgefallen. Einerseits wird der Mut der Behörden begrüßt, der russischen Propaganda Einhalt zu gebieten, andererseits gibt es Stimmen, die sagen, dass die Entscheidung viel zu spät komme. Jahre seien vergangen, in denen pro-russische Sender die Menschen in der Moldau einer Gehirnwäsche unterzogen und das Rating von Putin und der pro-russischen Parteien hochgeschraubt hätten. Tatsache ist, dass vier der sechs nun blockierten TV-Sender auch in der Europäischen Union ihr Programm nicht mehr ausstrahlen dürfen. 

Ende 2022 hat die pro-europäische Führung in Chisinau offenbar ihre Komplexe weitgehend überwunden und damit auch die Angst, (fälschlicherweise) beschuldigt zu werden, gegen demokratische Normen zu verstoßen oder Russland gereizt zu haben. Die Regierung scheint zu erkennen, dass die vielbeschworene "Neutralität", wie sie in der Verfassung des Landes festgeschrieben wurde, der Republik Moldau nicht helfe, sondern sie im Gegenteil verwundbar mache, da sie innere und äußere Aggressoren ermutige.

Diese Erkenntnis ermöglichte die breite Untersuchung der jüngsten regierungsfeindlichen Proteste in Chisinau, die mit schmutzigem Geld finanziert und von Russland unterstützt wurden. Die Aufnahme der flüchtigen Oligarchen Ilan Shor und Vladimir Plahotniuc in die Liste amerikanischer und britischer Sanktionen erleichterte diese Befreiung von Komplexen und führte auch in der Republik Moldau zur Ausarbeitung eines "Magnitski-Gesetzes" gegen Korruption, über das im Parlament abgestimmt werden soll.

Reformen in den Bereichen Energie und Verteidigung  

Das Jahr 2022 erwies sich auch in anderen Bereichen als wichtig für radikale Änderungen, wie die Sicherung der Energieunabhängigkeit von Russland und die Stärkung des Verteidigungssektors, der in den 30 Jahren seit der Erringung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion schwer vernachlässigt wurde. Seit dem Frühjahr-Sommer-Krieg 1992, der gegen die von Russland unterstützten transnistrischen Separatisten verloren wurde, hat niemand in Chisinau ernsthaft an eine Stärkung der nationalen Armee gedacht.

Es wurde fälschlicherweise behauptet, dass ein neutrales Land wie die Moldau keine Armee brauche - sehr zur Genugtuung Moskaus. Die ehemaligen moldauischen Präsidenten Vladimir Voronin und Igor Dodon sowie andere pro-russische Politiker schlugen sogar vor, die Armee ganz abzuschaffen. Plahotniuc, der ehemalige starke Mann in Chisinau, "blähte" den Polizeiapparat auf, der ihn vor seinen eigenen Bürgern und nicht vor einem äußeren Angreifer verteidigen sollte.

Diese beklagenswerte Mentalität ist endlich überwunden. Der Absturz einiger russischer Raketen auf das Gebiet der Republik Moldau war wohl das letzte überzeugende Argument dafür, dass das Land robuste Streitkräfte braucht. Erstmals sieht der Haushaltsentwurf für 2023 eine Erhöhung des Verteidigungsetats um 75 Prozent für den Kauf mehrerer Flugabwehranlagen vor. Es ist nicht genug, aber es ist ein Anfang.

2023 - es gibt kein Zurück  

Im Jahr, das nun zu Ende geht, hat die Republik Moldau - neben der Ukraine, die für ihre eigene Freiheit und die ganz Europas kämpft - den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten. Im Jahr 2022 beschleunigte sich in der Republik Moldau die Geschichte plötzlich, brachte uns mitten in dramatische Situationen, zeigte uns den Preis für Unabhängigkeit und Freiheit, zwang uns, die Frage zu beantworten: Sind wir bereit, sie zu verteidigen?

Das Verbot pro-russischer Propagandasender krönt einen Weg der Bewusstseinsfindung, den die Republik Moldau und ihre Führung unter dem Druck einer großen existenziellen Bedrohung gegangen sind - von der immer schwächer werdenden Hoffnung, dass die Neutralität Schutz bietet, bis hin zur Notwendigkeit, sich klar zu entscheiden, auf wessen Seite man steht. Zwischen Krieg und Frieden, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Demokratie und Tyrannei gibt es keinen Mittelweg. Dieser Kurs muss 2023 gefestigt werden. Es gibt kein Zurück. Ein Racheakt Russlands gegen die Republik Moldau würde die Vernichtung dieses Staates und seines Volkes bedeuten.

 

Vitalie Ciobanu gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Publizisten der Republik Moldau. Er ist Präsident des moldauischen PEN-Clubs.

Mit der Kolumne "Mein Europa" bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. "Mein Europa" zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen. 

Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz