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KonflikteIsrael

Spielt der Hamas-Angriff der Kreml-Propaganda in die Hände?

Juri Rescheto
9. Oktober 2023

Seit Beginn des brutalen Großangriffs der Hamas auf Israel will sich Russland auf keine Seite schlagen. Der Kreml pflegt zu beiden Konfliktparteien gute Beziehungen. Die Moskauer Lesart: Der Westen ist schuld.

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Gazastreifen | Rauch über Gaza-Stadt nach Israelischen Luftangriffen
Rauch steigt nach einem israelischen Luftangriff über dem Gaza-Streifen aufBild: Mahmud Hams/AFP/Getty Images

Die Landesflagge auf Halbmast, ein kleiner Nelkenstrauß in weiß-blau, den israelischen Nationalfarben: Russinnen und Russen kommen zur israelischen Botschaft in Moskau, um ihr Beileid mit den Opfern des Hamas-Angriffs auszudrücken. Polizisten überprüfen ihre Papiere. Es bleibt ruhig bis in den Abend. Ähnlich ruhig wie auch vor der Vertretung der Palästinenser in der russischen Hauptstadt.

Russland pflege traditionell gute Beziehungen zu beiden Seiten, sei zu beiden aber auch gleich distanziert, stellt der in Aserbaidschan lebende russische Nahost-Experte Ruslan Sulejmanow im DW-Gespräch fest: "Noch sind diese Beziehungen teilweise sogar vertrauensvoll, selbst, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat und das Verhältnis zu Israel sich zum Teil verschlechtert hat."

Außenminister Sergej Lawrow
Außenminister Sergej Lawrow Bild: AP Photo/picture alliance

Sulejmanow erinnert in diesem Zusammenhang an die Aussage des russischen Außenministers Sergej Lawrow im Mai 2022. Damals behauptete Lawrow mit Blick auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die "eifrigsten Antisemiten" seien in der Regel die Juden selbst. Die israelische Regierung verurteilte Lawrows Worte. Der damalige Außenminister Jair Lapid sprach von einer "unverzeihlichen, skandalösen Äußerung, einem schrecklichen historischen Fehler". Seitdem sei aber trotzdem nichts "Irreparables" passiert, resümiert Sulejmanow.

Intensivierte Kontakte zur Hamas

Das Gleiche betreffe auch das Verhältnis des Kremls zur Hamas, die von der EU, den USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird: "Diese Kontakte haben sich sogar in letzter Zeit intensiviert. Hamas-Vertreter kamen immer häufiger nach Moskau, das letzte Mal im März dieses Jahres." Der Experte bezweifelt, dass der Kreml über den geplanten Großangriff der radikal-islamischen Hamas informiert gewesen sei: "Selbst die israelische Militäraufklärung war völlig überrascht." Man habe zwar ein solches Szenario grundsätzlich auch in Moskau nicht ausgeschlossen. Niemand habe aber ein solches Ausmaß erwartet.

Ähnlich sieht es die Moskauer Politikwissenschaftlerin Jelena Suponina, eine führende Mitarbeiterin des Zentrums für strategische Studien, das eng mit dem Militär und der Regierung zusammenarbeitet. Die Kremlführung habe nichts gewusst, ist sie sich sicher. Gegenüber der Deutschen Welle zeigt sich Suponina skeptisch, dass Russland zur Vermeidung des Angriffs substanziell hätte beitragen können.

Grund dafür sei, dass der Kreml zurzeit andere Prioritäten habe, nämlich auf "seiner westlichen Seite", der Ukraine. Gleichwohl vermutet Suponina, dass Moskau zur Zeit "Anstrengungen unternimmt", sich in dem Konflikt vor allem mit seinen arabischen Partnern zu koordinieren, allen voran mit Ägypten, den Arabischen Emiraten, Katar und dem Iran. Dabei werde Russland sich auf keine Seite schlagen und gegen "terroristische Aktivitäten" auftreten.

In der Tat hat das offizielle Moskau die aktuelle Eskalation im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis verurteilt. Das russische Außenministerium nannte ihn "das Ergebnis eines Teufelskreises der Gewalt" und forderte Zurückhaltung. Russische Propagandisten, die darüber in den kremltreuen Medien diskutieren, vertreten im Wesentlichen drei Hauptthesen: Fehler des Westens hätten zur Eskalation geführt, Kriege seien zur Normalität geworden und Russen, die (wegen des Kriegs gegen die Ukraine) nach Israel gegangen seien, würden jetzt nach Russland zurückkehren.

Schuldzuweisung an die "Bekloppten" im Westen

Vor allem die These, der Westen, allen voran die USA, sei an der Attacke der Hamas schuld, greift der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew gern auf. Der heutige stellvertretende Chef des Sicherheitsrats nennt die USA in seinem Telegram-Kanal einen "entscheidenden Spieler". Dabei schlägt Medwedew einen geopolitischen Bogen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Der Nahost-Konflikt sei genau das, "womit sich Washington und seine Alliierten hätten lieber beschäftigen sollen". Stattdessen hätten sich die "Bekloppten" aus Washington "bei uns eingemischt, indem sie den Neonazis helfen und zwei nahestehende Völker (Russen und Ukrainer, Anmerkung der Redaktion) gegeneinander aufbringen".

 Dmitri Medwedew, Vize-Chef des russischen Sicherheitsrates
Dmitri Medwedew, Vize-Chef des russischen SicherheitsratesBild: Yekaterina Shtukina/dpa/picture alliance

Nahost-Experte Ruslan Sulejmanow nimmt Medwedews Worte nicht ernst: "Er ist dermaßen weit von der Realität entfernt, hat schon lange keinen Einfluss mehr." Dennoch vertrete Medwedew genau die Meinung des Kremls, dass der Westen solche Konflikte bewusst provoziert habe. Dies sei aber reine Verschwörungstheorie, weil der palästinensisch-israelische Konflikt in Wirklichkeit ganz andere Gründe habe.

Sulejmanow ist vielmehr der Meinung, dass in Wirklichkeit der Kreml von der Gewalteskalation im Nahen Osten profitiere: "Der Angriff lenkt zumindest davon ab, was Russlands Armee in der Ukraine tut." Alles andere ist für ihn Propaganda für den innerrussischen Gebrauch. Dabei sei der Konflikt selbst den meisten Menschen in Russland ziemlich egal. Er sei zu weit weg und zu kompliziert. 

Das mag auf die meisten zutreffen, aber nicht auf alle. Sonst würden keine Blumen vor der israelischen Botschaft in Moskau liegen und auch keine Frau mit dem Plakat "Nein zu Terror" davorstehen. Lange stand sie nach Medienberichten allerdings nicht: Die Polizei nahm sie fest.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga