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PolitikIsrael

Israel, Hamas, Gaza: Welche Regeln setzt das Völkerrecht?

19. Oktober 2023

Israel reagiert auf den Terror der Hamas mit Bomben, einer Blockade des Gazastreifens und möglicherweise auch mit einer Bodenoffensive. Was ist vom Völkerrecht gedeckt - und wo beginnen Kriegsverbrechen?

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Eine von Trümmern übersäte Straße mit weitgehend zerstörten, ehemals mehrstöckigen Gebäuden links und rechts, aufgenommen am 11. Oktober 2023
Zerstörung im Gazastreifen: Das Völkerrecht erlaubt Selbstverteidigung, setzt aber auch GrenzenBild: YAHYA HASSOUNA/AFP/Getty Images

Krieg ist grausam. Denn Krieg ist Gewalt, präziser: die Anwendung organisierter Gewalt zum Erreichen politischer Ziele. Diese Gewalt mit Regeln einzuhegen ist das Ziel des Völkerrechts. Wenn dieses aber auf die schmutzige Realität in Israel und Gaza trifft, wird es kompliziert. 

Klarheit besteht, was den brutalen Überfall angeht, als Hamas-Terroristen am 7. Oktober nach Israel eindrangen, mehr als 1300 Menschen töteten und knapp 200 als Geiseln verschleppten. Der Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon wertet das zunächst einmal als "massenhaften Mord". Er kommt aber auch im Hinblick auf den jahrzehntelangen Kampf zwischen Israel und den Palästinensern zu dem Schluss: "Weil dieser Angriff am 7. Oktober von solch einer Dimension und Intensität war, geht das Völkerrecht davon aus, dass wir es hier mit einem bewaffneten Konflikt zu tun haben."

Soldaten in grünen Uniformen tragen auf einer Bahre eine in einer schwarze Body-Bag verpackte Leiche. Im Hintergrund stehen ein Armee-Lastwagen und weitere Militärfahrzeuge
Beim Massaker der Hamas im Kibbuz Kfar Azza wurden Dutzende Menschen ermordetBild: Ohad Zwigenberg/AP/picture alliance

Entsprechend hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu den Kriegszustand ausgerufen. Am Tag nach dem Massaker im Süden Israels sagte Netanjahu in aller Deutlichkeit: Man werde alle Orte, an denen die Hamas im Einsatz sei oder wo sie sich verstecke, in Trümmer legen. Seither bombardiert Israel Gaza. Der britische Economist schreibt von rund 6000 Bomben in sechs Tagen.

Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sprach davon, dass "Hunderte Tonnen von Bomben" auf Gaza abgeworfen worden seien - "die Betonung liegt auf Zerstörung und nicht auf Genauigkeit". Nach Angaben der Hamas-Regierung sind seither mindestens 3000 Menschen ums Leben gekommen. Hunderttausende sind auf der Flucht innerhalb eines Gebiets von gerade einmal 365 Quadratkilometern - knapp die Fläche der Stadt Köln. Die Folgen des Bombardements beschreibt ein Tweet der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council. Demnach war bis zum 17. Oktober ein Viertel der Wohngebäude in Gaza zerstört worden.

Selbstverteidigung – mit Grenzen

Das Recht Israels auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff nach Artikel 51 der UN-Charta ist unbestritten. Dieses Selbstverteidigungsrecht aber wird vom humanitären Völkerrecht eingegrenzt. Und da ist eines der wichtigsten Prinzipien das Unterscheidungsgebot: Die kämpfenden Parteien müssen zwischen Zivilisten und Kombattanten, zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden. Das bedeutet aber nur, dass die Zivilisten oder zivilen Objekte nicht bewusst das Ziel von Angriffen sein dürfen. Ergo ist das Töten von Zivilisten nur dann verboten, wenn es nachweislich mit Vorsatz geschieht.

In der Praxis, erläutert Völkerrechtsprofessor Talmon, bedeutet das: "Wenn die Hamas eine Raketenstellung in einem zivilen Wohngebiet platziert, hat Israel das Recht, diese Raketenstellung zu bekämpfen - auch unter Inkaufnahme dessen, was man schrecklicherweise Kollateralschaden unter der Zivilbevölkerung nennt. Und dieser Kollateralschaden kann je nach militärischem Ziel und Erfordernis auch sehr hoch sein."

Auf einem Satellitenbild ist aus großer Entfernung von oben das dichte Straßengewirr von Gaza zu erkennen sowie ein kleiner Streifen Mittelmeer am oberen linken Rand.
Gaza - eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt ohne AusgangBild: Maxar Technologies/AP/picture alliance

Die vom Völkerrecht geforderte Unterscheidung ziviler und militärischer Ziele ist im Gazastreifen fast unmöglich. Es ist eines der am dichtesten bewohnten und bebauten Gebiete der Erde. Tunnel der Hamas verlaufen auch unter Wohnhäusern, Einrichtungen der Hamas befinden sich mitunter in Wohn- und Bürogebäuden. Das Völkerrecht nimmt darauf wenig Rücksicht.

"Wenn die Hamas sich in Schulen, Moscheen, Krankenhäusern aufhält, versteckt, dort Kommandozentralen unterhält, dann sind das legitime militärische Ziele", führt Stefan Talmon aus. Zugleich gilt: Wenn die Hamas militärische Stellungen in zivilen Gebieten einrichtet, ist das als Kriegsverbrechen zu werten.

Verbot der Kollektivstrafe

Israel hat eine umfassende Blockade über den Gazastreifen verhängt. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant sprach von einer vollständigen Belagerung, bei der Gaza von der Versorgung mit Strom, Wasser, Nahrung, Treibstoff abgeschnitten würde. Die israelische Menschenrechtsorganisation B´tselem wirft Israel angesichts des Ausmaßes der Luftangriffe und der Blockade Kriegsverbrechen vor. Die humanitäre Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen spricht von einer völkerrechtswidrigen kollektiven Bestrafung von Gaza.

Laut Professor Talmon geht auch die Mehrzahl der Völkerrechtler davon aus, dass eine Komplettblockade - Lebensmittel, Trinkwasser, Brennstoffe, medizinische Produkte - völkerrechtlich nicht gedeckt sei. "Es gibt im Völkerrecht ein Verbot der sogenannten Kollektivstrafe, in diesem Fall der kollektiven Bestrafung der gesamten palästinensischen Einwohnerschaft des Gazastreifens. Die sind ja nicht alle Mitglieder der Hamas und nicht alle für diesen Angriff verantwortlich, werden aber durch diese Reaktion Israels betroffen - und zwar unterschiedslos."

Dazu kommt: Das Völkerrecht verbietet explizit das Aushungern der Zivilbevölkerung. "Wenn ich eine Totalblockade verhänge, gehen irgendwann die Lebensmittel oder auch das Trinkwasser aus und dann liegt ein Fall des Aushungerns der Zivilbevölkerung vor. Das ist völkerrechtlich verboten", sagt Talmon.

Portrait von Stefan Talmon
Stefan Talmon lehrt Völkerrecht an der Universität BonnBild: Volker Lannert

Evakuierung legal, Vertreibung illegal

Israels Militär hat am 13. Oktober über eine Million Zivilisten im nördlichen Teil des Gazastreifens - knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung - aufgefordert, in den Süden des Gebiets zu ziehen. Dasselbe gilt auch für internationale Organisationen. Die Hamas hingegen rief die Bevölkerung zum Bleiben auf - und hinderte sie nach Angaben der israelischen Armee an der Flucht.

Weil die Infrastruktur des Gazastreifens in Trümmern liegt und es zu wenige Orte gibt, an die so viele Menschen gehen können, schätzen die Vereinten Nationen die Evakuierung als unmöglich ein. Jan Egeland, ehemaliger Außenminister Norwegens und heutiger Präsident der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council wie auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes bezeichneten den Evakuierungsbefehl als Rechtsbruch.

Das Befolgen der Anordnung garantiert jedoch keine Sicherheit, weil das Bombardement anhält. Von der Washington Post überprüfte Videoaufnahmen zeigen eine Reihe von Menschen, darunter mehrere Kinder, die offenbar durch einen israelischen Angriff getötet wurden, als sie am Freitag in den Süden flohen.

Grundsätzlich allerdings, führt Stefan Talmon aus, sei die Evakuierung der Zivilbevölkerung durch eine Besatzungsmacht im Völkerrecht zulässig. "Etwa um dadurch den Schutz und die Sicherheit der Bevölkerung sicherzustellen und militärische Operationen zu ermöglichen." Talmons Einschätzung nach verhält Israel sich hier nicht rechtswidrig. 

Humanitäres Völkerrecht "archaisches Recht"

"Verboten wäre es vom Völkerrecht, wenn Israel versuchen würde, die Bevölkerung aus dem gesamten Gazastreifen zu vertreiben. Aber innerhalb des Gebiets des Gegners kann ich durchaus Evakuierungen oder Zwangsverlagerungen der Bevölkerung zu deren eigenen Schutz und Sicherheit vornehmen", führt der Völkerrechtler aus.

Insgesamt sei das humanitäre Völkerrecht oder das Kriegsvölkerrecht, wie man es früher genannt hat, ein archaisches Recht, sagt Stefan Talmon. "Es ist von Staaten für Staaten gemacht worden - und zwar von Staaten, die davon ausgehen, dass sie eines Tages auch tatsächlich Krieg führen. Man wollte sich da keine Fesseln anlegen oder Regeln auferlegen, die man dann nicht einhalten kann."

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein