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'Mein Gesicht ist privat'

13. September 2010

Nicht nur in Europa, sondern auch in der arabischen Welt wird der Gesichtsschleier kontrovers diskutiert. Frauen, die den Niqab selbst tragen, kommen dabei aber kaum zu Wort, um sich zu erklären.

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Frauen mit Gesichtsschleier in Katar (Foto: DW/Doetzer)
Das Tragen des Niqab in Katar gehört für viele Frauen in Katar zum AlltagBild: DW/Stephanie Dötzer

Von weitem sind Yusra und Nashwa nicht leicht zu unterscheiden – beide tragen nicht nur eine lange, weite Abaya, die ihren ganzen Körper bedeckt, nicht nur ein Kopftuch, sondern auch einen Gesichtschleier. Frei bleibt nur ein kleiner Augenschlitz, durch den sie die Welt beobachten.

Und doch stehen die beiden für zwei ganz unterschiedliche Arten, den Gesichtschleier zu tragen. Nashwa kommt aus Katar – und dort gehört der Niqab, wie der Gesichtsschleier auf Arabisch heißt, schon seit jeher zum Straßenbild. "Wir denken da nicht groß drüber nach. Wir sprechen auch nicht viel darüber. Es ist einfach eine Tradition", erzählt Nashwa, eine Mutter von fünf Kindern und Verwaltungsangestellte der katarischen Regierung.

Außerhalb der Golfstaaten dagegen ist der Gesichtsschleier ein neuer Trend. Bis vor wenigen Jahren sah man ihn in Ländern wie Ägypten oder Syrien nur in Ausnahmefällen. Der Politikwissenschaftler Rafiq Abdessalem etwa kommt selbst aus Tunesien und kann sich nicht erinnern, in seiner Kindheit in Nordafrika je eine Frau mit Niqab gesehen zu haben. "Vor 50, 60 Jahren war das westliche Frauenbild für viele Ägypter und Tunesier so etwas wie eine Idealvorstellung. In gebildeten Kreisen sah man damals kaum Kopftücher – geschweige denn Gesichtsschleier. Aber heute gibt es in der arabischen Welt einen regelrechten De-Säkularisierungsprozess."

Gesichtsschleier trotz Protest der Eltern

Genau dafür ist Yusra ein gutes Beispiel. Die 28-jährige Ägypterin kommt aus einer Familie mit hohem Bildungsgrad, in der die Religion keine allzu große Rolle spielte. Ihre Mutter war vom europäischen Feminismus geprägt und erzog ihre Tochter zu einer selbstbewussten Frau. Eine, die ihren eigenen Weg geht – und sich mit 24 trotz ihrer entsetzten Eltern für den Gesichtsschleier entscheidet.

Yusra sieht darin so viele Vorteile, dass es sie wenig kümmert, dass Treppensteigen und Essen in der Öffentlichkeit mit verschleiertem Gesicht eindeutig komplizierter werden: "Ich fühle mich unter dem Gesichtsschleier sehr beschützt. Die Leute gehen mir weniger auf die Nerven, man wird nicht mehr so oft belästigt. Und es gibt mir viel Kraft und Freiheit, wenn man sich einer religiösen Regel unterwirft von der man glaubt, dass sie richtig ist." Außerdem sei sie niemandem mehr unterworfen, nur noch sich selbst.

Frauen mit Gesichtsschleier in Katar beim Einkaufen (Foto: DW/Doetzer)
Einige Frauen fühlen sich beschützter, wenn sie den Gesichtsschleier tragenBild: DW/Stephanie Dötzer

Doch der Glaube fordert keinen Gesichtsschleier. Die große Mehrheit der islamischen Religionsgelehrten sieht darin weder eine Pflicht, noch eine religiöse Fleißaufgabe. Für den Mauretanier Mohamed El Moctar, der in seiner Wahlheimat Katar zu einem der renommiertesten islamischen Intellektuellen zählt, hat der Niqab letztlich gar nichts mit dem Islam zu tun, sondern viel mehr mit lokalen Sitten, die sich durchs heiße Wüstenklima erklären. Im derzeitigen Trend zum Niqab sieht er ein Symptom einer islamischen Identitätskrise.

Kulturelle Selbstverteidigung?

"In Krisenzeiten neigen religiöse Menschen – egal welcher Religion - dazu, sich mehr um die Form der Religion zu kümmern als um die Essenz. Genau das passiert gerade bei den Muslimen. Es ist ein kultureller Selbstverteidigungsreflex. der dazu führt, dass Muslime verstärkt zu strengen Auslegungen neigen, Detail-versessener werden und weniger tolerant. Aber wenn der äußere Druck nachlässt, dann werden sie auch wieder selbstbewußter und offener", meint El Moctar.

Frauen mit Gesichtsschleier in Katar (Foto: DW/Doetzer)
Der Niqab in der Öffentlichkeit - ein Muss für Nashwa, die sich aber nicht fotografieren lassen wollteBild: DW/Stephanie Dötzer

Auf einer gesellschaftlichen Ebene sind diese Mechanismen kaum zu leugnen. Die Frauen selbst jedoch kümmert der politische Zusammenhang wenig, für sie ist der Niqab einfach eine Selbstverständlichkeit geworden. Nashwa etwa ist seit der Pubertät nicht mehr mit unbedecktem Gesicht vor die Tür gegangen. "Wenn ich mir vorstelle, ich würde mit meinem Mann unverschleiert shoppen gehen und wir würden Freunde von ihm treffen – das wäre mir sehr unangenehm. Und ihm auch", meint sie. Sie sei froh, dass ihr Mann auf einen Niqab bestehe. "Ein Mann der mich liebt, dem kann doch nicht egal sein, wer mein Gesicht sieht!"

Auch Yusra findet es wichtig, dass Begegnungen zwischen Männern und Frauen in geregelten Bahnen verlaufen. Alles andere, meint sie, führe nur zu Verwirrungen. Dass sie ihr Gesicht kürzlich in einer Bank vor einem Mann enthüllen musste, empfand sie als erniedrigend: "Ich habe mich entschlossen, mein Gesicht zu etwas Privatem zu machen. Wenn ich dann gezwungen werde, es zu zeigen, dann ist das extrem unangenehm. Vielleicht habe ich mich einfach daran gewöhnt es zu verstecken, aber es hat sich wirklich angefühlt, als würde man mir die Kleidung vom Leib reißen."

Das Männerbild hinterm Gesichtsschleier

Das Männerbild dahinter ist für die meisten Europäer gewöhnungsbedürftig. Yosra und Nashwa betonen, dass Frauen und Männer einfach unterschiedlich seien – und "die Europäer sich etwas vormachen, wenn sie das leugnen". Statt im Gesichtsschleier ein Symbol der Unterdrückung zu sehen, empfinden sie ihn als Zeichen für den besonderen Wert der Frau. Als Unterdrücker gelten diejenigen, die ihnen den Schleier nehmen wollen.

Als die syrische Regierung den Gesichtsschleier diesen Sommer an Unis und Schulen verbieten ließ, wunderte sich im arabischen Raum kaum einer. Die weitgehend säkularen, aber autokratischen arabischen Regime sind ohnehin unbeliebt – und haben Angst vor Konkurrenz aus dem islamistischen Lager. Dass aber Frankreich und Belgien den Niqab verbieten, obwohl ihn dort fast niemand trägt, kann Nashwa nicht verstehen.

Stephanie Dötzer mit Niqab (Foto: DW/Doetzer)
Autorin Stephanie Dötzer im Selbstversuch: Mit dem Niqab unterwegs in DohaBild: DW/Stephanie Dötzer

"Ich glaube, das ist gegen den Islam gerichtet. Sie wollen Probleme mit den Muslimen schaffen. Sie sagen, dass Frauen hier keine eigenen Entscheidungen treffen können, dass sie das tun müssen, was ihr Vater, Ehemann oder Bruder sagt. Aber wir treffen unsere eigenen Entscheidungen! Ich weiß nicht, warum die Europäer soviel darüber reden. Die meisten Leute hier finden die europäische Diskussion ziemlich dumm", erklärt sie schmunzelnd.

"Am besten einfach ignorieren"

Doch je mehr Regierungen über ein Verbot des Gesichtsschleiers nachdenken, desto mehr wird es zum Thema – und könnte leicht zum Gegenteil dessen führen, was man ursprünglich erreichen wollte, meint Mohamed al Moctar: "Viele, die versuchen, den Extremismus zu bekämpfen, heizen ihn damit nur an. Es ist ein Teufelskreis. Wenn man versucht, so etwas gesetzlich zu verbieten, werden die Leute nur umso sturer. Und diejenigen Muslime, die eigentlich gar nichts vom Gesichtsschleier halten, solidarisieren sich, weil sie diese Gesetze als Teil einer Kampagne gegen alle Muslime wahrnehmen."

Sein Rat an alle: Das Thema am besten einfach ignorieren. Es sei zwar nicht gerade schlau, den Niqab in einem Land zu tragen, in dem er nicht zur Kultur gehört – ihn zu verbieten aber genauso wenig.

Autorin: Stephanie Doetzer
Redaktion: Diana Hodali