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Herrscherin über die Zeit

10. August 2016

Jetzt kann sie endlich loslassen: Kristin Armstrong gewinnt im stolzen Alter von 42 Jahren ihr drittes Zeitfahr-Olympiagold und gibt den Kampf gegen die Zeit im Zielbereich endgültig auf, hat Joscha Weber beobachtet.

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Brasilien Rio 2016 10 08 Kristin Armstrong USA Radsport (Foto: Getty)
Alle guten Dinge sind drei: Nach 2008 und 2012 gewinnt Armstrong erneut ZeitfahrgoldBild: Getty Images/B. Lennon

Die Wolken über dem Badeort Pontal hängen tief. Dunkelgrau wabern sie über den langen Sandstrand westlich von Rio und erleichtern sich gerade mal wieder ihrer feuchten Fracht. Kristin Armstrong scheint das nicht zu stören. Sie steht im kühlen Nieselregen und erzählt einfach immer weiter. Der böige Wind verwirbelt ihr nasses Haar. Es ist das perfekte Wetter zum krank werden. Andere Radsportlerinnen haben längst das Weite gesucht, nur Armstrong erzählt allen geduldig von ihrer Goldfahrt und vom Kampf gegen sich selbst.

"Ich bin heute Morgen um halb fünf aufgewacht und habe gedacht: 'Oh je, ich habe überhaupt nicht im Regen für dieses Rennen trainiert. Da hatte ich plötzlich Zweifel", erzählt Armstrong von ihrem frühmorgendlichen Schockerlebnis. "Aber dann habe ich mir gesagt: 'Ich habe sicher die meisten Regenrennen auf dem Zeitfahrrad von allen Teilnehmern absolviert.' Also was soll's." In Puncto Erfahrung macht ihr keine hier etwas vor. Kristin Armstrong ist 42 Jahre alt und könnte die Mutter von manchen ihrer Konkurrentinnen im Einzelzeitfahren sein. Und man sieht es ihr auch an. Ihr kantiges, schmales und leicht faltiges Gesicht erzählt von Entbehrungen, von vielen Stunden in Sonne und Fahrtwind.

"Ich sitze manchmal drei Stunden lang im Eisbad"

"Ich habe es bis ans Limit getrieben, was mein Alter betrifft", sagt Armstrong, die die Jahre spürt. Sie brauche viel länger, um sich zu erholen. Harte Wettkämpfe steckt sie nicht mehr so einfach weg: "Ich sitze manchmal drei Stunden lang im Eisbad." Aber: Ihr Alter bringe für solch einen Wettkampf auch Vorteile". Mental sei sie über die Jahre viel stärker geworden, sagt Armstrong im Gespräch mit der DW, und das spiele in diesem brutalen Kampf gegen die Uhr und sich selbst eine wichtige Rolle.

Rio Momente 10 08 Segeln Radfahren Kristin Armstrong stürzt nach Sieg (Foto: Getty)
Am Boden, aber nur kurz: Kristin Armstrong Sekunden nach dem Gewinn ihres dritten GoldesBild: Getty Images/B. Lennon

Den Beweis dafür hat sie kurz zuvor eindrucksvoll erbracht. Das Rennen über 29,7 Kilometer rund um Pontal wurde zum Kampf um Sekunden, doch Armstrong scheint in sich zu ruhen. Sie sitzt perfekt auf dem Rad, bewegt den Oberkörper kaum und tritt kraftvoll die Anstiege hoch. Dass mal sie und mal die Russin Olga Zabelinskaya führt, bringt sie nicht aus dem Konzept. Auch der starke Gegenwind, der Regen und die rutschigen Straßen nicht. "Fünf Kilometer vor dem Ziel sagte mir mein Trainer dann per Funk: 'Jetzt ist es an Dir: Welche Medaille willst Du?'", erzählt Armstrong später und sie habe dann an ihre Teamkollegin Mara Abbott gedacht, die im Straßenrennen am vergangenen Sonntag so tragisch scheiterte und Vierte wurde. "Ich wollte das für mein Team tun, für Mara. Sie hat mir gestern überall kleine Post-its hinterlassen. Auf meinem Kaffeebecher, auf meiner Bürste, auf meinem Kopfkissen und auf meiner Sporttasche heute morgen. Auf allen stand: 'Du bist ein Champion'. Ihre Unterstützung war einfach unglaublich."

"Mama, warum weinst Du?"

Am Ende bleibt Kristin Armstrong 5,5 Sekunden vor ihrer russischen Rivalin und gewinnt ihr drittes Zeitfahr-Olympiagold in Folge. Kurz hinter der Ziellinie bricht sie zusammen, ringt nach Luft und weint. "Mein Sohn Lucas fragte mich: 'Mama, warum weinst Du?' Das musste ich ihm erst mal erklären, warum man weint, wenn man gewinnt." Dies sind die Aufgaben, die Armstrong nun erwarten. Ihr fünfjähriger Sohn will gerne zum Fechten, weil sie dort so ähnlich kämpfen wie seine großen Vorbilder: die Jediritter aus Star Wars. Kristin Armstrong hat nun, einen Tag vor ihrem 43. Geburtstag, endlich mehr Zeit für ihre Familie.

Zeit, das war bisher ein knappes Gut für sie. Nicht nur auf dem Rad im Kampf gegen die Uhr, auch sonst war sie oft getaktet. Denn ihr bisheriges Leben war geprägt vom Leistungssport. Armstrong begann als Schwimmerin und Läuferin. Dann suchte sie den Erfolg im Triathlon, bis sie die Arthrose in den Hüftgelenken zwang, umzudenken. Erst mit 27 Jahren begann ihrer Karriere auf dem Rad so richtig. Seitdem wurde sie zwei Mal Weltmeisterin und drei Mal Olympiasiegerin. Zwischen den Höhepunkten macht sie sich manchmal rar. "Man hat sie das ganze Jahr über wenig gesehen. Daher konnten wir sie nur schwer einschätzen. Hut ab vor ihrer Leistung", sagt die Deutsche Lisa Brennauer, die selbst von Gold geträumt hatte, aber knapp eine Minute hinter Armstrong bleibt.

Rio Momente 10 08 Radfahren Kristin Armstrong zeigt ihrem Sohn ihre Goldmedaille (Foto: Getty)
"Mama, warum weinst Du?" - Kristin Armstrong mit ihrem Sohn LucasBild: Getty Images/Q. Rooney

Jetzt hat sie Zeit

Für ihre Gegnerinnen muss es frustrierend sein: Kristin Armstrong kommt wie aus dem Nichts und gewinnt einfach. Sie selbst sagt, dahinter stecke harte Arbeit. Sie kenne ihren Körper genau und wisse, wie sie ihn in Form bringe. "Meine Leistungsdaten bei allen drei Olympiasiegen sowie bei meinen Weltmeistertiteln liegen sehr eng beieinander, innerhalb von 5 Watt. Ich weiß also genau, was ich leisten kann."

Und so steht Kristin Armstrong, die sich nach eigener Aussage im Supermarkt inzwischen "wunderbar verquatschen" kann und die Zeit vergisst, so dass sich ihr Mann daheim schon Sorgen macht, im Zielbereich und erzählt einfach immer weiter. Jetzt hat sie ja die Zeit.