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Politik

Al-Kaida nach Al-Sawahiri: Wie geht es weiter?

3. August 2022

Nach der Tötung von Aiman al-Sawahiri dürfte die Terrororganisation Al-Kaida erhebliche Schwierigkeiten haben, einen angemessenen Ersatz zu finden. Grundlegend geschwächt ist die Gruppe aber nicht, meinen Experten.

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 Aiman al-Sawahiri mit Osama bin Laden
Weniger charismatisch als sein Vorgänger Osama bin Laden (l.): Aiman al-Sawahiri (r.)Bild: AUSAF Newspaper/EPA/picture alliance/dpa

Es war offenbar eine Rakete neuen Typs, mit der die Amerikaner Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri töteten. Die Bilder aus den Kabuler Stadtteil Scherpur lassen den veröffentlichten Bildern zufolge nur Schäden im oberen Stockwerk erkennen - jenem, in dem Al-Sawahiri sich befand. Medienberichten zufolge deutet der Umstand auf den Einsatz so genannter Hellfire-Raketen vom Typ R9X hin: Diese explodieren beim Einschlag nicht, sondern fahren messerscharfe Klingen aus, die nur die Zielperson töten, andere Menschen aber, selbst die in unmittelbarer Nähe, am Leben lassen.

Somit wäre Al-Sawahiri zum Ziel einer neuen, vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama angestoßenen Militärstrategie geworden. Diese will so genannte Kollateralschäden, also den in Kauf genommenen Tod Unbeteiligter, vermeiden. Aus Sicht der US-Regierung bietet die neue Technik einen erheblichen Vorteil: US-Präsident Joe Biden kann zwar der amerikanischen Öffentlichkeit einen politisch-militärischen Triumph bieten - zugleich aber auch darauf hoffen, dass die Tötung die Unterstützer- und Sympathisantenszene von Al-Kaida weniger stark provoziert, als wenn noch weitere, womöglich völlig unbeteiligte Personen ums Leben gekommen wären.

Mit Al-Sawahiri haben die USA einen Terroristen getötet, der in den vergangen Jahren nur wenig - zuletzt im September - in Erscheinung getreten ist. Der 72 Jahre alte Ägypter sei zuletzt schwer krank gewesen, sagt der Politologe Ahmad Ban vom Emirates Policy Center in Abu Dhabi im DW-Interview. Zudem habe er es nicht vermocht, die in viele Fraktionen zerrissene Al-Kaida-Gruppe wieder zu einen.

Fehlender Glanz

Im Vergleich mit seinem Vorgänger Osama bin Laden, dem Gründer von Al-Kaida, habe Al-Sawahiri immer ein Manko gehabt, sagt der Terrorexperte Asiem El-Difraoui, Autor mehrerer Bücher über den internationalen Dschihadismus (zuletzt "Die Hydra des Dschihadismus - Entstehung Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr", 2021): "Ihm hat das Charisma Bin Ladens gefehlt. Auch darum hat Al-Kaida in den Augen potenzieller Mitglieder einen Teil des früheren Glanzes verloren."

Dennoch habe Al-Sawahiri vielen dschihadistischen Gruppen als historische Autorität gegolten. Diese gehe vor allem auf seine Rolle im globalen Dschihad zurück, den er ganz wesentlich mitbegründet habe. "Und so stellt sich trotz seines schwachen Charismas die Frage, wo man eine vergleichbare findet. Denn seine pozentiellen Nachfolger sind der großen Öffentlichkeit kaum bekannt", so Difraoui im DW-Gespräch.

Rauch rund um das von Flugzeugen getroffene World Trade Center im September 2011
Al-Kaidas bekanntester Anschlag: der Angriff auf das World Trade Center im September 2011Bild: picture alliance / zz/Larry Le Vine/STAR MAX/IPx

Unabsehbare Auswirkungen

Insgesamt könnte die Tötung Al-Sawahiris unterschiedliche, teils widersprüchliche Folgen haben. Zwar hat die Terrororganisation ihr bekanntestes Gesicht verloren. Einen Nachfolger aufzubauen, dürfte schwierig sein und Zeit kosten. Zugleich aber dürften sich einzelne Teile des weit gespannten Al-Kaida-Netzwerks angespornt sehen, sich neu zu organisieren und neue Schlagkraft zu entwickeln. "Ayman al-Sawahiri hat sich 40 Jahre lang in diesen Gruppen engagiert. Seine Tötung könnte ihnen nun Antrieb sein, sich zu vereinen", so Ahmad Ban.

Eine solche Neustrukturierung sei aus Sicht der Gruppe auch nötig, so Ban weiter. "Denn ihre operativen Fähigkeiten sind stark reduziert. Die Gruppe ist nicht mehr in der Lage, Operationen wie die Anschläge vom 11. September 2001 oder Angriffe auf Botschaften durchzuführen. Solche Unternehmen erfordern einen großen operativen Aufwand. Den kann die Gruppe derzeit nicht leisten."

Zwar sei die Ideologie von Al-Kaida wesentlich systematischer und schlüssiger als die anderer Terrorgruppen, ergänzt der in Paris lebende Journalist und Islamismus-Experte Albert Farhat. Weil die Führungsstruktur der Organisation aber seit langem stark geschwächt sei, falle es ihr schwer, neue Mitglieder anzuwerben.

Konkurrenz durch den IS

Die Situation von Al-Kaida stelle sich je nach Region ganz unterschiedlich dar, sagt Asiem El-Difraoui. Im arabischen Kernland, etwa in Syrien und im Irak, stehe Al-Kaida aufgrund der Konkurrenz zur Terrororganisation "Islamischer Staat" erheblich unter Druck. Dem hat sie bislang allerdings widerstanden, ja mehr noch: In der Provinz Idlib konnte ein Ableger Al-Kaidas, "Jabhat al-Nusra", den IS teils verdrängen.

Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" mit einer Flagge der Organisation
Starke Konkurrenz: die Terrororganisation "Islamischer Staat", Szene aus Syrien, 2019Bild: Amaq News Agency/AP/dpa/picture alliance

Besonders stark sei Al-Kaida aber an den äußeren Rändern der arabischen Welt, so Difraoui. "Das gilt insbesondere für den Jemen und die Sahel-Zone." So macht in Somalia ein weiterer Ableger Al-Kaidas, die Terrorgruppe Al-Schabab, von sich reden. Vor rund zwei Wochen fielen rund 500 ihrer Kämpfer in Äthiopien ein und verwickelten dessen Armee mehrere Tage lang in schwere Kämpfe, die zahlreiche Tote auf beiden Seiten forderten. Akte wie dieser haben weniger einen militärischen als vielmehr einen propagandistischen Effekt. Flattert die Al-Kaida-Fahne auf dem bislang kaum behelligten Terrain Äthiopiens, hat das auf viele Sympathisanten und mögliche Mitkämpfer eine elektrisierende Wirkung.

Grundlegende Missstände

Mit Blick auf die vielen Probleme, denen sich die Region gegenübersieht, bezweifeln Beobachter, dass die Tötung Al-Sawahiris dem Dschihadismus insgesamt viel anhaben kann. Die US-Regierung unterliege einer Fehleinschätzung, wenn sie meine, den radikalen islamischen Dschihadismus durch die Tötung einer einzelnen Person entscheidend treffen zu können, heißt es in einem Kommentar der panarabischen Tageszeitung "Al-Araby Al-Jadeed" mit Sitz in London.

Denn der Terrorismus gedeihe auf einem Fundament komplexer politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Probleme, heißt es in der Zeitung. "Jenseits von Kabul und dem Balkon, auf dem Al-Sawahiri getötet wurde, gibt es im Nahen Osten, in Afrika und Asien viele Orte, deren Bewohner Zeugen eines sich ausweitenden Gefühls von Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch, Unterdrückung und Tyrannei sind. Der Erfolg dschihadistischer Organisationen beruht darauf, dass sie aus diesen Empfindungen Feuer zu schüren vermögen."
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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika